Don't You Cry - Falsche Tränen

Don't You Cry - Falsche Tränen

Don't You Cry - Falsche Tränen

Don't You Cry - Falsche Tränen

eBook1. Auflage (1. Auflage)

$9.99 

Available on Compatible NOOK Devices and the free NOOK Apps.
WANT A NOOK?  Explore Now

Related collections and offers


Overview

Mitbewohnerin.
Freundin.
Mörderin?

Eines Nachts verschwindet die junge Studentin Esther Vaughan spurlos aus ihrem Apartment in Chicago. Ihre Mitbewohnerin Quinn findet nur einen mysteriösen Brief, der sie vor die Frage stellt, wie gut sie die vermeintlich brave Frau wirklich kennt. Als sie dann noch erfährt, dass schon längst per Anzeige nach einer Nachmieterin für ihr Zimmer gesucht wird, bekommt sie langsam Angst. Quinn beginnt zu recherchieren: Was ist eigentlich aus dem Mädchen geworden, das vorher mit Esther zusammengewohnt hat? Je mehr sie erfährt, desto mehr bringt Quinn sich in tödliche Gefahr.

"Verursacht Gänsehaut!”
Entertainment Weekly

"Nervenaufreibend und außergewöhnlich.”
LA Times

"Ein fesselnder psychologischer Thriller!”
New York Times-Bestsellerautorin Lisa Scott

"Dieses Buch geht unter die Haut und lässt einen nicht mehr los. Großartig!"
The Sun


Product Details

ISBN-13: 9783959676663
Publisher: HarperCollins Publishers
Publication date: 06/12/2017
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 384
File size: 4 MB
Language: German

About the Author

About The Author
New York Times- und USA Today-Bestsellerautorin Mary Kubica hat einen Bachelor of Arts an der Miami University in Oxford, Ohio, in Geschichte und Amerikanische Literatur. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern außerhalb von Chicago.

Read an Excerpt

Don't You Cry Falsche Tränen

Aus dem Amerikanischen von Rainer Nolden


By Mary Kubica

HarperCollins Germany GmbH

Copyright © 2017 HarperCollins
All rights reserved.
ISBN: 978-3-95967-666-3


CHAPTER 1

QUINN

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich von Anfang an spüren müssen, dass etwas nicht stimmte. Das quietschende Geräusch mitten in der Nacht, das geöffnete Fenster, das leere Bett. Später habe ich mir jede Menge Ausreden ausgedacht, um meine Sorglosigkeit zu rechtfertigen – von Kopfschmerzen über Müdigkeit bis hin zu himmelschreiender Dummheit.

Wie auch immer ...

Ich hätte sofort spüren müssen, dass etwas nicht in Ordnung war.


Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Esthers Wecker, der zwei Türen weiter schrillt.

"Stell ihn ab", brumme ich und presse mir das Kissen auf den Kopf. Ich drehe mich auf den Bauch und drücke das Gesicht in ein zweites Kissen, um den Lärm zu dämpfen. Außerdem ziehe ich das Betttuch über mich.

Doch es nützt nichts. Ich kann ihn immer noch hören.

"Verdammt noch mal, Esther", schnauze ich, trete die Decke mit den Füßen nach unten und setze mich auf. Neben mir wird Protest laut, jemand tastet nach der Decke, um sie zurückzuerobern. Ein tiefer Seufzer. Der Geschmack nach dem Alkohol vom gestrigen Abend steigt mir in die Kehle – eine Mischung aus einem Drink namens "Cranberry Crash", Whiskey Sour und japanischem Eistee. Das Zimmer dreht sich um mich wie ein Hula-Hoop-Reifen, und unvermittelt erinnere ich mich an die schmuddelige Tanzfläche, auf der ich herumgewirbelt bin – mit einem Typen namens Aaron oder Darren oder Landon oder Brandon. Derselbe Kerl, der vorgeschlagen hat, uns auf der Heimfahrt ein Taxi zu teilen; derselbe, der noch in meinem Bett liegt. Ich versetze ihm einen Rippenstoß und fordere ihn auf, sich zu verziehen. Dabei reiße ich ihm die Decke aus der Hand. "Meine Mitbewohnerin ist aufgewacht." Ich bohre ihm meinen Finger in die Seite. "Du musst gehen."

"Du hast eine Mitbewohnerin?" Schlaftrunken rappelt er sich auf. Er reibt sich die Augen. Erst jetzt, im Schein einer nahen Straßenlaterne, deren Licht durch das Fenster fällt, stelle ich fest, dass der Mann in meinem zerwühlten Bett doppelt so alt ist wie ich. Sein Haar, das in der dämmrigen Barbeleuchtung – und unter Einwirkung einer beträchtlichen Menge Alkohol – haselnussbraun ausgesehen hatte, ist nun zinngrau. Die Grübchen sind keine niedlichen Grübchen, sondern tiefe Lachfalten. Vor allem Falten.

"Verdammt noch mal, Esther", fluche ich leise, weil ich genau weiß, dass es nicht mehr lange dauert, bis die alte Mrs. Budney eine Etage tiefer mit dem Besenstiel gegen die Decke klopft, damit der Krach aufhört.

"Du musst gehen", wiederhole ich. Er tut es tatsächlich.

Ich folge der Spur des Lärms in Esthers Zimmer. Der Wecker gibt ein dröhnendes Geräusch von sich. Es klingt nach Hunderten von Heuschrecken. Fluchend taste ich mich an der Wand entlang durch den dunklen Flur. Die Sonne geht erst in einer Stunde auf. Es ist noch nicht einmal sechs Uhr. Jeden Sonntag lässt Esther sich von dem Getöse wecken. Zeit für den Kirchgang. Solange ich mich erinnern kann, singt Esther mit ihrer warmen, silberhellen Stimme im Chor der katholischen Kirche von Catalpa. Ich nenne sie deshalb "die heilige Esther".

Beim Betreten von Esthers Schlafzimmer bemerke ich als Erstes die Kälte. Eisige Novemberluft weht durch das Fenster. Der Papierstapel auf ihrem Schreibtisch flattert raschelnd im Wind und wird nur von einem schweren Lehrbuch ("Einführung in die Ergotherapie") am Wegfliegen gehindert. Eisblumen bedecken die Fensterscheiben, an deren Innenseiten das Kondenswasser in Strömen herabfließt. Das Fenster steht weit offen. Der Sichtschutz aus Fiberglas steht aus irgendeinem Grund auf dem Fußboden.

Ich lehne mich aus dem Fenster, um nachzuschauen, ob Esther vielleicht auf der Feuertreppe sitzt, aber draußen – in der Welt außerhalb unseres kleinen Wohnblocks in Chicago – ist alles ruhig und dunkel. Autos parken am Straßenrand und unter Bäumen, deren Blätter auf sie herabfallen. Eine Frostschicht überzieht die Fahrzeuge und das vergilbte Gras, das bald ganz absterben wird. Rauchwolken steigen aus den Schornsteinen der benachbarten Häuser und lösen sich kräuselnd unter dem morgendlichen Himmel auf. Die gesamte Farragut Avenue liegt in tiefem Schlaf – abgesehen von mir.

Die Feuertreppe ist leer. Keine Spur von Esther.

Ich wende dem Fenster den Rücken zu und bemerke Esthers Bettdecke auf dem Boden – ein Bettbezug in leuchtendem Orange und ein blauer Überwurf. "Esther?", frage ich, während ich das kastenförmige Schlafzimmer durchquere, das eigentlich zu klein ist für Esthers Doppelbett. Ich stolpere über ein paar Kleidungsstücke, die achtlos auf den Boden geworfen wurden, und verheddere mich in einem Paar Jeans. "Morgenstund hat Gold im Mund", murmele ich, während ich die Hand auf den Wecker fallen lasse, damit er endlich Ruhe gibt. Doch ich habe nur das Radio eingeschaltet, und eine nervtötende Geräuschkulisse erfüllt den Raum – der Moderator einer Morgensendung quasselt über den Alarm hinweg. "Verdammt noch mal." Allmählich verliere ich die Geduld. "Esther!"

Als sich meine Augen an die Dunkelheit im Zimmer gewöhnt haben, stelle ich fest: Die heilige Esther liegt nicht in ihrem Bett.

Endlich gelingt es mir doch, den Wecker abzuschalten. Ich knipse das Licht an. Die Helligkeit lässt mich die Augen zusammenkneifen und verursacht mir Kopfschmerzen – Nachwehen einer ausschweifenden Nacht. Ich schaue zweimal hin, um mich zu vergewissern, dass Esther tatsächlich nirgendwo ist, gucke sogar unter dem Bettzeug nach, das auf dem Fußboden liegt. Sofort wird mir klar, dass es lächerlich ist, aber ich tue es trotzdem. Ich werfe einen Blick in ihren Schrank, in das kleine Badezimmer, betrachte die umfangreiche Kollektion überteuerter Kosmetika, die ungeordnet auf dem Toilettentisch stehen und die wir uns teilen.

Doch Esther ist nirgendwo.

Kluge Entscheidungen sind nicht gerade meine Stärke. Das ist Esthers Gebiet. Wahrscheinlich verständige ich deshalb nicht sofort die Polizei: Esther, die mir dazu geraten hätte, ist nicht da. Ehrlich gesagt ist mein erster Gedanke auch nicht, dass Esther etwas zugestoßen sein könnte. Es ist auch nicht mein zweiter, dritter oder vierter Gedanke. Deshalb lasse ich meinen Kater wieder die Oberhand gewinnen, schließe das Fenster und lege mich zurück ins Bett.

Als ich zum zweiten Mal aufwache, ist es schon nach zehn. Die Sonne steht am Himmel, und in den Coffee- und Bagelshops auf der Farragut Avenue herrscht ein emsiges Kommen und Gehen von Menschen, die frühstücken oder zu Mittag essen wollen – oder wie immer man das nennen will, was die Leute um zehn Uhr essen und trinken. Sie sind eingehüllt in Daunenjacken und mit Wolle gefütterte Trenchcoats, die Hände tief in den Taschen vergraben, Hüte auf dem Kopf. Man muss kein Genie sein, um daraus zu folgern, dass es kalt ist.

Ich dagegen sitze auf dem kleinen rosenblätterfarbenen Sofa im Wohnzimmer und warte darauf, dass die heilige Esther mit einem Kaffee, Geschmacksrichtung Haselnuss, und einem Bagel zurückkommt. Denn das tut sie jeden Sonntag, nachdem sie im Kirchenchor gesungen hat. Sie bringt mir einen Kaffee und einen Bagel mit, und dann setzen wir uns zum Essen an den kleinen Küchentisch und reden über alles Mögliche – über die Kinder, die während der ganzen Messe geweint haben, über den Dirigenten, der seine Notenblätter verschusselt hat, über die bescheuerten Dinge, die ich in der vergangenen Nacht gemacht habe: zu viel getrunken, einen Typen, den ich kaum kenne, mit nach Hause geschleppt, einen gesichtslosen Mann, den Esther niemals zu Gesicht bekommt, sondern nur durch die papierdünnen Wände unseres Apartments hören kann.

Als ich am Abend zuvor ausgegangen bin, wollte Esther mich nicht begleiten. Sie hatte sich vorgenommen, zu Hause zu bleiben und sich auszuruhen. Angeblich steckte ihr eine Erkältung in den Knochen. Wenn ich allerdings jetzt darüber nachdenke, muss ich gestehen, dass ich keinerlei Symptome einer Krankheit bemerkt habe – keinen Husten, kein Naseputzen, keine tränenden Augen. In ihrem gemütlichen Baumwollpyjama und eingehüllt in eine Decke, saß sie auf dem Sofa. Komm doch mit, bat ich sie. Auf der Balmoral Street war eine neue Bar eröffnet worden, die wir unbedingt besuchen wollten – eines dieser angesagten In-Lokale im Lounge-Stil, in denen ständig Dämmerlicht herrscht und nur Martinis serviert werden.

Komm doch mit, bat ich sie, aber sie lehnte ab.

Ich wäre nur eine Spaßbremse, Quinn, sagte sie. Geh ohne mich. Dann wirst du dich besser amüsieren.

Soll ich bei dir bleiben? bot ich ihr an, aber es war nur ein halbherziger Vorschlag. Wir könnten uns etwas zu essen bringen lassen, schlug ich vor, worauf ich allerdings gar keine Lust verspürte. Ich hatte mein neues Babydoll-Kleid und High Heels angezogen, war beim Friseur gewesen und hatte Make-up aufgelegt. Für den Abend hatte ich mir sogar extra die Beine rasiert. Ich würde auf keinen Fall zu Hause bleiben. Wenigstens hatte ich es ihr angeboten.

Doch Esther blieb dabei: Geh ohne mich, und amüsier dich.

Genau das habe ich dann auch getan. Ich bin ohne sie ausgegangen und hatte meinen Spaß. Allerdings nicht in der Martini-Bar. Die wollte ich nämlich gemeinsam mit Esther entdecken. Stattdessen landete ich in einer schäbigen Karaoke-Kneipe, trank zu viel und kam mit einem fremden Mann nach Haus.

Als ich in der Nacht heimkehrte, lag Esther schon im Bett – zumindest dachte ich das – und hatte die Tür geschlossen.

Aber jetzt, da ich hier auf dem Sofa sitze, denke ich über die Ereignisse des Morgens nach: Was, um alles in der Welt, konnte Esther veranlasst haben, über die Feuertreppe zu verschwinden?

Ich grüble unentwegt, aber meine Gedanken landen unweigerlich immer bei einer Sache: einem Bild von Romeo und Julia, der berühmten Balkonszene, in der Julia ihrem Romeo ihre Liebe gesteht (dieser Moment ist so ziemlich das Einzige, was mir aus meiner Schulzeit in Erinnerung geblieben ist, als wir das Stück durchgenommen haben – das und die Tatsache, dass die Hülle eines Kugelschreibers sich wunderbar dazu eignet, Papierbällchen durch die Gegend zu blasen).

Ist das der Grund, warum Esther mitten in der Nacht aus dem Fenster geklettert ist: ein Mann?

Bekanntlich vergiftet sich Romeo am Ende der Geschichte, und Julia ersticht sich mit einem Dolch. Ich habe das Drama gelesen. Noch besser hat mir der Film von 1990 gefallen, die Version mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes. Ich weiß daher, wie es dort endet: Romeo trinkt sein Gift, und Julia schießt sich mit seiner Pistole in den Kopf. Und während ich noch darüber nachdenke, hoffe ich, dass Esthers Geschichte ein besseres Ende nimmt als die von Romeo und Julia.

Im Moment kann ich sowieso nichts anderes tun als warten. Deshalb bleibe ich auf dem rosenblätterfarbenen Sofa sitzen, starre auf den leeren Küchentisch und hoffe auf Esthers baldige Rückkehr – egal, ob sie die Nacht in ihrem Bett verbracht hat oder aus dem Fenster im zweiten Stock unseres Mietshauses, in dem es keinen Aufzug gibt, geklettert ist. Das alles spielt keine Rolle. Ich warte im Schlafanzug – Waffle- Henley-Jacke und Flanellboxershorts sowie einem Paar wollener Rutschsocken, die meine Füße schöner erscheinen lassen – auf meinen Kaffee und meinen Bagel. Aber heute kommt niemand, und ich nehme es Esther ziemlich übel, dass ich an diesem Tag aufs Frühstück und auf Koffein verzichten muss.


Gegen Mittag mache ich das, was jeder Erwachsene mit Selbsterhaltungstrieb tun würde: Ich bestelle etwas bei Jimmy John's Gourmet Sandwiches. Während der über fünfundvierzig Minuten, die ich auf mein Truthahnsandwich warten muss, gelange ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass mein Magen begonnen hat, sich selbst zu verdauen. Seit mehr als vierzehn Stunden hatte ich nichts mehr zu essen, und dank der Überdosis Alkohol bin ich mir ziemlich sicher, dass mein Körper bald genauso aufgebläht sein wird wie der von verhungernden Kindern, die man immer im Fernsehen sieht.

Ich habe keine Energie mehr. Der Tod steht unmittelbar bevor. Wahrscheinlich sterbe ich gleich.

Doch dann klingelt es an der Tür, und ich stehe schnell auf. Lieferservice! Ich begrüße den Boten von Jimmy John's an der Tür und drücke ihm ein Trinkgeld in die Hand – ein paar schäbige Dollar, die ich in einem Umschlag gefunden habe, den Esther in einer Küchenschublade versteckt hat und auf dem Miete steht.

Ich verschlinge mein Mittagessen über einen eisernen Beistelltisch gebeugt, und danach tue ich, was vermutlich jedes anständige menschliche Wesen tut, wenn seine Mitbewohnerin sich unentschuldigt aus dem Staub gemacht hat: Ich schnüffle herum. Ohne die geringsten Schuldgefühle betrete ich Esthers Zimmer. Nicht der kleinste Gewissenbiss zwickt mich.

Esthers Zimmer ist das kleinere von beiden – etwa so groß wie ein überdimensionierter Kühlschrank. Ihr Doppelbett nimmt fast den ganzen Raum ein, es erstreckt sich von einer dünnen Wand bis zur nächsten und lässt kaum Platz, um darum herumzugehen. Das kriegt man für elfhundert Dollar monatlich in Chicago: Papierwände rund um ein kühlschrankgroßes Zimmer.

Ich stoße gegen den Fuß des Bettes und stolpere über die Bettdecke, die immer noch auf dem zerkratzten Parkett liegt. Ich schaue hinaus auf die Feuertreppe – eine Konstruktion aus Stufen und Plattformen aus Eisengittern, die an Esthers Fenster vorbeiführt. Als wir vor Jahren eingezogen sind, haben wir Witze darüber gerissen, dass sie zwar das kleinere Zimmer bekommt, aber dank der Feuertreppe diejenige sei, die einen Brand überleben würde, sollte das Haus eines Tages in Flammen aufgehen. Ich war damit einverstanden. Ich bin es immer noch, denn ich habe nicht nur ein Bett, einen Schreibtisch und eine Kommode in meinem Zimmer, sondern auch einen Papasansessel. Und im Haus hat es bis heute nicht gebrannt.

Einmal mehr frage ich mich, was, zum Teufel, Esther dazu gebracht haben könnte, mitten in der Nacht über die Feuertreppe zu verschwinden. War irgendwas mit der Tür nicht in Ordnung? Es ist nicht so, dass ich mir ernsthaft Sorgen mache – warum auch? Esther ist schon öfter auf der Feuertreppe gewesen. Andauernd haben wir auf der Eisenplattform gesessen, die Beine über einer hässlichen Gasse in Chicago baumeln lassen, den Mond und die Sterne betrachtet und Cocktails geschlürft. Irgendwie mochten wir das – auf dem unbequemen gelöcherten Eisen zu sitzen, an den schmutzigen schwarzen Stufen zu lehnen, unsere Geheimnisse und Träume miteinander zu teilen, bis sich die rostigen Kanten so tief in unsere Haut bohrten, dass unser Rücken gefühllos wurde.

Aber selbst wenn sie in der vergangenen Nacht auf der Feuertreppe gesessen haben sollte – jetzt ist sie nicht mehr da.

Wo könnte sie sein?

Ich schaue in ihren Schrank. Ihre Lieblingsstiefel sind verschwunden – als hätte sie sie angezogen, das Fenster geöffnet und wäre, irgendeinem Plan folgend, hinausgeklettert.

Ja, sage ich mir. Genau das hat sie getan. Es bestätigt mir, dass es Esther gut geht. Es geht ihr gut, rede ich mir ein.

Trotzdem. Warum?

Ich starre aus dem Fenster hinaus in den stillen Nachmittag. Beim hektischen Trubel vom Morgen haben sich die Menschen mit ausreichend Koffein versorgt, sodass nun niemand mehr auf der Straße zu sehen ist. Wahrscheinlich sitzt halb Chicago vor dem Fernseher und schaut dem Team der Bears dabei zu, wie sie wieder einen haushohen Sieg davontragen.

Dann wende ich der Feuertreppe den Rücken zu und beginne Esthers Zimmer zu durchsuchen. Ich entdecke einen Fisch, der nicht gefüttert wurde. Schmutzige Wäsche, die aus einem Plastikkorb quillt, der im Schrank steht. Enge Jeans. Leggings. BHs und Omaunterwäsche. Einen Stapel weißer Mieder, sorgfältig gefaltet und neben dem Plastikkorb gestapelt. Eine Packung Ibuprofen. Eine Wasserflasche. Einen turmhohen Stapel Schulbücher neben ihrem selbst zusammengeschraubten Ikea- Schreibtisch – zusätzlich zu dem einen, das auf dem Papierstapel liegt, damit die Blätter nicht wegfliegen. Ich lege meine Finger um den Griff einer Schublade, schaue aber nicht hinein. Es wäre ungehörig – ungehöriger noch, als die Gegenstände auf ihrem Schreibtisch in Augenschein zu nehmen: ihren Laptop, ihren iPod, ihre Kopfhörer und vieles mehr.

An die Wand ist ein Foto von Esther und mir getackert, aufgenommen im vergangenen Jahr. Es war Weihnachten, und vor unserem künstlichen Tannenbaum haben wir uns für ein Selfie aufgebaut. Bei der Erinnerung daran, wie wir beide auf der Suche nach dem Baum durch Berge von Schnee gestapft sind, muss ich grinsen. Auf dem Foto stehen Esther und ich eng nebeneinander, die Zweige des Baums kitzeln uns am Kopf, und das Lametta hat sich in unserer Kleidung verheddert. Wir lachen beide – ich zeige mein selbstgefälliges Grinsen, Esther strahlt übers ganze Gesicht. Der Baum gehört Esther. Sie bewahrt ihn in einem Lagerhaus weiter unten auf der Straße in einer ein Meter fünfzig mal drei Meter großen Box für sechzig Dollar im Monat auf – zusammen mit alten Gitarren, einer Laute und all den anderen Sachen, die in ihrem Minizimmer keinen Platz haben. Auch ihr Fahrrad. Und eben den Baum.


(Continues...)

Excerpted from Don't You Cry Falsche Tränen by Mary Kubica. Copyright © 2017 HarperCollins. Excerpted by permission of HarperCollins Germany GmbH.
All rights reserved. No part of this excerpt may be reproduced or reprinted without permission in writing from the publisher.
Excerpts are provided by Dial-A-Book Inc. solely for the personal use of visitors to this web site.

From the B&N Reads Blog

Customer Reviews