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Kapitel 4 Haben umgeschulte Linkshänder Schwierigkeiten? Kennen Sie Karl Kartoffelmann? Er ist 24 Jahre alt, 1,81 Meter groß, 78 Kilogramm schwer, gut aussehend – und hat es nicht leicht. Denn er trägt eine unsichtbare Last auf seinen Schultern. Es ist ein Rucksack mit Kartoffeln. Der Rucksack liegt richtig fest und fällt nicht herunter, selbst während sich Karl bewegt. Der Rucksack wiegt 10 Kilogramm und ist wie angewachsen. Dieses Gewicht schleppt Kartoffelmann jeden Tag 24 Stunden mit sich herum. Im Laufe eines Tages spürt Karl diese zusätzliche Masse mal mehr, mal weniger. Besonders beim Schreiben ist er schnell verspannt und manchmal quälen ihn Kopfschmerzen. Auch handelt er mit dieser trägen Masse weniger geschickt im Alltag. Am Frühstückstisch fällt schon mal ein Glas um, im sportlichen Wettkampf fehlt ihm oft der berühmte Zentimeter. Aus seiner Schulzeit kennt er noch Sprüche wie „Kartoffelmann stößt immer an!“ oder beim Fußball als Rätsel „Wer schießt Torwart oder Latte an? Es ist Karl, der Kartoffelmann.“ Sitzt er hingegen zu Hause bequem im Sessel oder entspannt sich im Urlaub, spürt er den Rucksack deutlich weniger oder gar nicht. Der Rucksack wirkt sich des Weiteren auf seine geistige Beweglichkeit aus. Zum Beispiel ist er in Diskussionen leicht frustriert. In einem wichtigen Gespräch mit mehreren Kollegen findet Karl auf die Schnelle nicht die überzeugenden Worte. Erst nach dem Gespräch, als es längst zu spät ist, fallen ihm die besten Argumente ein. Damit hätte er dem Gespräch einen ganz anderen Verlauf gegeben. Er hätte wirklich punkten können. Ähnliche Erfahrungen kennt Karl aus wichtigen Klassenarbeiten und Prüfungen. Er hat gut gelernt und kann das Gelernte vor der Prüfung tatsächlich abrufen. Pünktlich zu Beginn der Arbeit befällt ihn der berühmte Prüfungsstress. Sein gespeichertes Wissen zeigt sich nur noch lückenhaft und ist später vollkommen verschwunden. Nach der Arbeit jedoch weiß er wieder alles. Kennen Sie vielleicht auch einen wie Karl Kartoffelmann? Oder seine Cousine Karla Kartoffelmann? Sie ist 1,60 Meter groß, der Kartoffelsack wiegt nur 5 Kilogramm … Umgeschulte Linkshänder brauchen mehr Energie Der Rucksack mit den Kartoffeln symbolisiert beispielhaft die besonderen Belastungen für umgeschulte Linkshänder. Diese Belastungen können sich unterschiedlich zeigen. Wie immer sie individuell aussehen mögen, sind sie in jedem Fall eine Tatsache für mich. Jeder umgeschulte Linkshänder schleppt eine zusätzliche Last mit sich herum. Vielleicht sind auch Sie ein umgeschulter Linkshänder und wenden jetzt ein: „Ich hatte mit meiner Umschulung nie Schwierigkeiten und habe sie bis heute nicht.“ Immerhin ist Ihnen ein ordentliches Abitur gelungen, das Studium haben Sie geschafft und im Beruf läuft es ebenfalls recht gut. Eventuell gehören Sie ja zu denjenigen, die trotz der Umschulung viel erreicht haben. Das ist für mich kein Widerspruch zu der Behauptung: Umgeschulte Linkshänder brauchen mehr Energie. Schauen wir uns verschiedene Lebensbereiche und Situationen aus dem Alltag genauer an. Vorher noch einmal für Ihr leichteres Verstehen der Zusammenhänge meine Definition zum „Umgeschulten Linkshänder“(siehe dazu speziell Kapitel 3): Ein umgeschulter Linkshänder ist ein genetischer Linkshänder, der mit der rechten Hand schreibt und die wichtigen Tätigkeiten des Alltags mit der rechten Körperseite ausführt. Die Betroffenen haben fast immer ein Problem zu meistern. Die acht Lasten des umgeschulten Linkshänders Diese acht Lasten möchte ich Ihnen jetzt näher vorstellen. Die erste Last: Konzentrationsprobleme Beim Diktatschreiben gab es für einen Schüler der dritten Klasse immer wieder den gleichen Ablauf. Seine Eltern schilderten mir diesen Verlauf während des Diktats: Im ersten Drittel schrieb ihr Sohn alles richtig. Im zweiten Drittel gab es nur einen Fehler. Aber dann kam das letzte Drittel und damit noch vier weitere Fehler. Besonders ärgerlich war die unterschiedliche Schreibweise zweier Wörter. Sie wurden im ersten Drittel richtig und zum Schluss falsch geschrieben. Und dann wieder wie im letzten Diktat die vergessenen i-Punkte auf dem i. Der „Höhepunkt“ für die Eltern: der vergessene Buchstabe im allerletzten Wort. Sonst schrieb das Kind dieses Wort immer richtig. Für die Eltern war ein Fehler kaum zu verhindern, aber die anderen sind so genannte unnötige Fehler. Die Zensur hätte eine Zwei sein können, durch die unnötigen Fehler wurde es gerade so die Note Vier. Im Zeugnis stand folgender Satz: „Er muss es lernen, sich besser zu konzentrieren, besonders bei schriftlichen Arbeiten.“ Meine Frage, ob es die Konzentrationsprobleme immer gäbe, verneinten die Eltern spontan. Beim freien Spielen zum Beispiel ist bis heute die Konzentration wunderbar; sie hält bis zu mehreren Stunden an. Die zweite Last: Links-Rechts-Unsicherheit Während meiner Tätigkeit als Sportlehrer veranstaltete ich gerne Reaktionsspiele mit Erst- bis Viertklässlern. Die Kinder mussten blitzschnell verschiedene Begriffe verarbeiten, zu einem Ort in der Sporthalle hinlaufen und eine Bewegungsaufgabe erfüllen. Eine Beispielaufgabe: Alle Kinder stellen sich auf die grüne Turnmatte, heben den linken Fuß und den rechten Arm. Mehrere Kinder konnten die Seiten links und rechts nicht bestimmen. Die pfiffigen haben sich dann an einem Mitschüler orientiert, der schnell war und die Seiten sicher konnte. So haben sie die Situation für sich gemeistert. Eine 30-jährige Musikerin erreichte in ihrem bisherigen Leben alle Abschlüsse, auch das Abitur und das Musikstudium, mit der Bestnote. Trotz ihrer Leistungsstärke hatte sie mit dem Auseinanderhalten von links und rechts immer ein Problem. Als sie ihren Führerschein absolvierte, konnte sie diese Schwäche nicht mehr verbergen. In jeder Fahrstunde verwechselte sie links und rechts. Irgendwann platzte dem Fahrlehrer der Kragen: „Wollen Sie mich verscheißern? Sie als studierte Frau wollen mir doch nicht weismachen, dass Sie links und rechts nicht auseinanderhalten können!“ Sie konnte es aber wirklich nicht. Die dritte Last: Blackouts und Faden verlieren Keiner will sie haben, sie werden versucht und gehasst. Gleichwohl tauchen sie stets wieder auf, meist in einem entscheidenden Augenblick. Mit Blackouts kämpfen umgeschulte Linkshänder fast immer. Sie treten gerne in Situationen auf, die von Aufregung und Stress begleitet sind, wenn es um „alles“ geht, besonders in Konstellationen mit verschiedenen Einflussfaktoren. Solche Situationen können sein: Klassenarbeiten schreiben, Prüfungen ablegen, sich an den Namen eines Menschen schnell erinnern, zügig eine Geheimzahl abrufen, ein wichtiges Gespräch leiten, formvollendet einen Vortrag oder eine Rede halten, den Traumpartner kennenlernen. Befrage ich umgeschulte Linkshänder nach Blackouts, berichten sie fast immer von Erlebnissen hierzu. Manche davon sind sogar lustig, die meisten haben allerdings einen bitteren Beigeschmack. Die Viertklässlerin Nele berichtet von ihrem Deutschunterricht. Als sie sich meldet, sagt die Lehrerin zur gesamten Klasse: „Oh, Nele meldet sich, wir wollen sie gleich drannehmen, sonst braucht sie wieder die restliche Stunde, um sich zu erinnern.“ Sehr verwandt mit dem Blackout ist „den Faden verlieren“. Sie erzählen Freunden von Ihrem Urlaubserlebnis. Alle hören gespannt zu. Plötzlich sagen Sie: „Jetzt habe ich den Faden verloren. Wo bin ich noch mal stehen geblieben?“ Manchmal kommt schon Sekunden später: „Jetzt fällt‘s mir wieder ein.“ Für viele bedeutet den Faden zu verlieren eine regelrechte Blamage. Die vierte Last: Legasthenie und Dyskalkulie Umgeschulte Linkshänder haben häufig Probleme mit dem Lesen- und Schreiben lernen. Hierbei ist das Wort Probleme für einige Erstleser stark untertrieben, es sind heftige Kämpfe mit den Buchstaben. Sie werden vertauscht, verdreht, gespiegelt oder gekippt. Wer alleine „b“ und „d“ nicht unterscheiden kann, ist nicht in der Lage, fließend zu lesen. Damit Sie diese Situation einmal selbst erleben, führen Sie gerne folgenden Versuch aus: Markieren Sie auf einer Buchseite oder in einem Zeitungsartikel alle Wörter mit „b“ und „d“. Dann lesen Sie den Text und spielen die kleine Denkpause bei diesen Wörtern nach. Die Denkpause dauert für Legastheniker eine bis fünf Sekunden. Dann endlich haben sie das Wort entschlüsselt. Nun, wie ist es Ihnen ergangen? Haben Sie den Inhalt des ganzen Satzes erfasst? Und wie sieht es mit dem Inhalt des ganzen Textes aus? Wie reagieren wohl die Mitschüler in der Grundschule auf die häufigen Denkpausen des Vorlesers? Haben Schüler Leseprobleme, wirken sich diese in fast allen Fächern aus. Deshalb ist es ganz wichtig, Leseprobleme immer zu beheben. Mit der Rechtschreibung stehen sehr viele umgeschulte Linkshänder gleichfalls auf Kriegsfuß. Aus meiner fünfzehnjährigen Erfahrung als Lerntherapeut kann ich sagen: Umschulung der Linkshändigkeit ist die Hauptursache für Legasthenie und Dyskalkulie. Auf die beiden letztgenannten Herausforderungen gehe ich detaillierter in Kapitel 18 ein.