Der Sommer, der so viel versprach
In der Wildnis von Wyoming, 1885: Eigentlich hat Abigail Harding ihr Leben gut im Griff. Sie unterrichtet an einer renommierten Mädchenschule und ist so gut wie verlobt. Doch eine spontane Reise zu ihrer Schwester, die als Offiziersgattin in einem Fort in Wyoming lebt und zutiefst unglücklich zu sein scheint, verändert alles. Abigail gerät in einen Strudel von Ereignissen, der nicht nur ihr gesamtes Lebenskonzept und ihre Zukunftspläne infrage stellt, sondern sie auch in Lebensgefahr bringt ...

Amanda Cabot lebt mit ihrem Mann in Wyoming, USA, und machte zunächst als Informatikerin Karriere, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft fürs Schrei-ben widmete. Ihre Romane waren bereits für zahlreiche Preise nominiert. 'Der Sommer, der so viel versprach' ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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Der Sommer, der so viel versprach
In der Wildnis von Wyoming, 1885: Eigentlich hat Abigail Harding ihr Leben gut im Griff. Sie unterrichtet an einer renommierten Mädchenschule und ist so gut wie verlobt. Doch eine spontane Reise zu ihrer Schwester, die als Offiziersgattin in einem Fort in Wyoming lebt und zutiefst unglücklich zu sein scheint, verändert alles. Abigail gerät in einen Strudel von Ereignissen, der nicht nur ihr gesamtes Lebenskonzept und ihre Zukunftspläne infrage stellt, sondern sie auch in Lebensgefahr bringt ...

Amanda Cabot lebt mit ihrem Mann in Wyoming, USA, und machte zunächst als Informatikerin Karriere, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft fürs Schrei-ben widmete. Ihre Romane waren bereits für zahlreiche Preise nominiert. 'Der Sommer, der so viel versprach' ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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Der Sommer, der so viel versprach

Der Sommer, der so viel versprach

by Amanda Cabot
Der Sommer, der so viel versprach

Der Sommer, der so viel versprach

by Amanda Cabot

eBook1., Auflage (1., Auflage)

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Overview

In der Wildnis von Wyoming, 1885: Eigentlich hat Abigail Harding ihr Leben gut im Griff. Sie unterrichtet an einer renommierten Mädchenschule und ist so gut wie verlobt. Doch eine spontane Reise zu ihrer Schwester, die als Offiziersgattin in einem Fort in Wyoming lebt und zutiefst unglücklich zu sein scheint, verändert alles. Abigail gerät in einen Strudel von Ereignissen, der nicht nur ihr gesamtes Lebenskonzept und ihre Zukunftspläne infrage stellt, sondern sie auch in Lebensgefahr bringt ...

Amanda Cabot lebt mit ihrem Mann in Wyoming, USA, und machte zunächst als Informatikerin Karriere, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft fürs Schrei-ben widmete. Ihre Romane waren bereits für zahlreiche Preise nominiert. 'Der Sommer, der so viel versprach' ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Product Details

ISBN-13: 9783868279139
Publisher: Francke-Buch
Publication date: 01/01/2014
Sold by: CIANDO
Format: eBook
Pages: 100
File size: 588 KB
Language: German

About the Author

Amanda Cabot lebt mit ihrem Mann in Wyoming, USA, und machte zunächst als Informatikerin Karriere, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft fürs Schrei-ben widmete. Ihre Romane waren bereits für zahlreiche Preise nominiert. 'Der Sommer, der so viel versprach' ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Read an Excerpt

Kapitel 1 Wyoming, Juni 1885 Es gab Zeiten, in denen sich Abigail Harding nichts mehr wünschte, als ein Einzelkind zu sein. Zeiten wie diese. Wenn Charlotte nicht gewesen wäre, säße sie jetzt nicht eingepfercht in dieser Postkutsche und würde ein Land durchqueren, das so karg war, dass nicht einmal Kojoten hier leben wollten. Zu allem Überfluss wurde sie dabei auch noch von einer Frau begleitet, die noch niemals gehört hatte, dass Schweigen Gold war. „Is ’n ziemlich schöner Tag, stimmt’s?“ Abigail zuckte zusammen, als die Kutsche schwankte und sie zum gefühlt hundertsten Mal gegen die Seitenwand schleuderte. Obwohl Concord-Kutschen den Ruf genossen, die komfortabelsten zu sein, die jemals gebaut worden waren, konnte nichts eine holprige Straße ausgleichen. Fahrspuren, so war sie von ihrer gesprächigen Begleiterin informiert worden, waren allerdings immer noch besser als Matsch. Dieser könnte nämlich dazu führen, dass die Räder stecken blieben. Und dann wären die Passagiere gezwungen, auszusteigen und Bekanntschaft mit dem Dreck zu machen. Abigail war dankbar für die kleinen Dinge des Lebens und nickte. „Der Himmel ist herrlich“, gab sie zu. Das war das einzig Positive, was sie über diese trostlose Landschaft sagen konnte. Sie würde sicher nicht behaupten, dass sie das Gebiet von Wyoming schön fände, weil das absolut nicht der Fall war. Aber sie wollte Mrs Dunn auch nur ungern beleidigen, auch wenn sie wünschte, die Frau würde endlich aufhören zu reden. Abigail war an Einsamkeit gewöhnt und wenn sie nach den Geschichten urteilte, die die Witwe erzählt hatte, war diese ebenfalls damit vertraut. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Mrs Dunn Abigail unter ihre Fittiche genommen hatte, als sie sie in Cheyenne auf die Postkutsche hatte warten sehen. Abigails Einwand, sie komme allein klar, schließlich habe sie ja auch schon ohne Begleitung den ganzen Weg aus Wesley, Vermont, bis Cheyenne geschafft, hatte sie schlicht ignoriert. Es sei sehr unangebracht, so hatte Mrs Dunn behauptet, wenn Abigail ihre Reise ohne Begleitung fortsetze. Das gelte umso mehr, als einer der anderen Passagiere in der Postkutsche nach Deadwood ein alleinstehender Mann sei. „Er is Soldat“, hatte ihre selbsternannte Beschützerin gezischt, als ob Abigail nicht in der Lage sei, eine Uniform zu erkennen. „Das sollte eigentlich bedeuten, dass er ’n anständiger Kerl is, aber man kann nich vorsichtig genug sein.“ Nicht einmal der Anblick eines Ehepaares, welches Fahrscheine kaufte, reichte aus, um Mrs Dunn von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie hielt Abigails Arm fest umklammert. „Das sind reiche Leute“, erklärte sie und zeigte auf den Berg eleganter Koffer, der die beiden begleitete. „Die wollen ganz bestimmt nichts mit uns zu tun haben.“ Und so fand sich Abigail auf der Rückbank neben einer Frau wieder, die Stunden damit zubrachte, die Kordeln ihres Pompadours, eines unförmigen Beutels, der ihr als Handtasche diente, auf- und wieder zuzuknoten. Währenddessen hatte es sich der Leutnant auf dem Vordersitz neben dem wohlhabenden Pärchen bequem gemacht. Mit einem Fuß stützte er sich an der leeren Bank ab, die die mittlere Sitzreihe des Innenraumes bildete. Seine Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Der Anstand wurde zweifelsohne gewahrt, denn er und Abigail waren durch die ganze Länge der Kutsche voneinander getrennt. Sie sprachen nur miteinander, wenn die Postkutsche anhielt und er Abigail und Mrs Dunn dabei half, die hohen Stufen hinabzusteigen. Wie von Mrs Dunn vorhergesagt, war das Paar, das sich als Mr und Mrs Fitzgerald aus New York City vorgestellt hatte, eher schweigsam geblieben. Die beiden hatten sich lediglich darüber beklagt, rückwärts fahren zu müssen. Als Abigail ihnen ihren Platz und den noch freien Sitz zwischen ihr und Mrs Dunn angeboten hatte, hatte die Witwe protestiert. „Sie können nich bei dem Herrn sitzen. Das macht man nich.“ Sie umklammerte Abigails Arm hartnäckig und hinderte sie dadurch, sich von ihrem Platz zu erheben. Die offensichtlich verärgerten Fitzgeralds beschränkten sich darauf, leise miteinander zu sprechen, und ignorierten Mrs Dunn völlig. Obwohl ihnen das nicht vorzuwerfen war, hatte es letztendlich dazu geführt, dass Abigail als einzige Gesprächspartnerin der übermäßig korrekten Witwe übriggeblieben war. „Sie mögen also unser’n Himmel.“ Mrs Dunn nickte Abigail energisch zu. Ihre braunen Augen - eben noch tränennass, als sie über den Tod ihres geliebten Mannes gesprochen hatte und wie schwierig es gewesen sei, allein die Arbeit auf der Ranch weiterzuführen - strahlten wieder. Obwohl ihr Mann bereits seit über einem Jahr tot war, war Mrs Dunn noch immer tiefschwarz gekleidet und zutiefst davon überzeugt, dass sie niemals aufhören würde, ihn zu lieben. Ihr ausgesprochen unmodisches Kleid war von einer dicken Schicht grau-braunen Schmutzes bedeckt. Sogar in dem Schleier, der ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, hatte sich Staub verfangen. Beides war dem ständigen Wind geschuldet, der Schmutz aufwirbelte und ihn mit einer beinahe tornadoartigen Geschwindigkeit ostwärts trieb. Obwohl sie sich nichts mehr wünschte, als die Unterhaltung zu beenden, zwangen ihre guten Manieren Abigail, artig zu erwidern: „Ich habe noch nie einen so klaren Himmel in einem so tiefen Blau gesehen.“ Das entsprach durchaus der Wahrheit. Ebenfalls der Wahrheit entsprach Abigails Erkenntnis, dass dieser Teil der Reise der bisher Schlimmste war. Der Zug war einigermaßen bequem gewesen und Cheyenne hatte sich als weniger primitiv erwiesen, als sie befürchtet hatte – auch wenn die gesamte männliche Bevölkerung zu glauben schien, dass mindestens eine Waffe notwendiger Bestandteil einer angemessenen Garderobe sein musste. Doch jetzt befand sich Abigail unglücklicherweise im absoluten Nirgendwo und nichts, was Mrs Dunn bemerken könnte, würde etwas daran ändern. Es gab keine Anzeichen von Leben, es sei denn, man zählte das unansehnliche Gestrüpp mit, das die Hügellandschaft überall dort bedeckte, wo eigentlich Bäume hätten stehen sollen. Zugegeben, dieses Gestrüpp war lebendig. Lebendig und bereit zum Angriff. Die Kakteen waren schon schlimm genug, aber die wirklichen Schurken waren die Yuccas. Warum hatte Gott eine Pflanze erschaffen, deren stachelige Blätter von Rändern, scharf wie Rasierklingen, gesäumt waren? Sicher hatte er es nicht getan, um Löcher in den Rock einer nichtsahnenden Dame zu reißen. Mrs Dunn behauptete, dass die Yuccas im weiteren Verlauf dieses Monats mit wunderschönen weißen Blüten gesegnet werden würden. Wie dem auch sei: Abigail jedenfalls betrachtete ihre Existenz als Beweis dafür, dass dies kein Ort war, an dem zivilisierte Menschen leben sollten. Yuccas und unablässig heulender Wind gehörten nicht zu Abigails Vorstellung vom Paradies auf Erden. „Ich geh mal davon aus, dass das Gebiet von Wyoming nich gerade heimatliche Gefühle bei Ihnen weckt.“ Hatte Mrs Dunn ihre Gedanken gelesen? Dieser Ort, der nun schon seit einem Jahr Charlottes Zuhause war, erschien ihr ausgesprochen ungastlich. Während sie aus dem Fenster blickte, verfinsterte sich Abigails Blick. So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie sich einfach nicht vorstellen, dass sich ihre ältere Schwester in einer solchen Wildnis wohlfühlte. Elizabeth, ihre jüngere Schwester, würde vielleicht ein Abenteuer wittern, aber Charlotte bevorzugte elegante Kleider, Mahlzeiten, die auf feinem chinesischen Porzellan serviert wurden, und die Gesellschaft gutsituierter Damen. Auch wenn sie Abigail versichert hatte, dass Fort Laramie sehr viel ansprechender war, als man sich das von einem Fort der Armee vorstellen könne, war es immer noch von einer trostlosen Landschaft umgeben. Vielleicht war das der Grund, weshalb Charlottes Briefe so gezwungen gewirkt hatten. Vielleicht war das der Grund, aus dem es Abigail unmöglich gewesen war, ihre Bedenken zu zerstreuen. Vielleicht war das der Grund, warum sie einen Zug bestiegen und ihr sorgfältig durchgeplantes Leben hinter sich gelassen hatte. Als sie aus Vermont abgereist war, war sie sich sicher gewesen, dass Gottes Wille sie hierhergeführt hatte. Jetzt gab es überhaupt nichts mehr, dessen sie sich sicher war. Abigail zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich wieder ihrer Reisegefährtin zu. Die Fitzgeralds, die wahrscheinlich genauso gelangweilt waren wie sie selbst, schienen eingeschlafen zu sein. „Sie haben Recht. Wyoming ist ganz anders als Vermont“, sagte sie und versuchte, ihre Seufzer zu unterdrücken, während sie an ihr Zuhause dachte. „Der größte Teil des Staates ist sehr grün. Daher hat er sogar seinen Namen. Das Wort Vermont leitet sich von den französischen Worten für ,grün‘ und ,Berge‘ ab.“ Abigail biss sich auf die Zunge, als ihr der belehrende und schulmeisterliche Tonfall ihrer Worte bewusst wurde. Mrs Dunn wollte genauso wenig eine Lehrstunde in Etymologie absolvieren, wie Abigail hier sein wollte. Wäre ihre Sorge um Charlotte nicht gewesen, dann würde Abigail jetzt zu Hause die frische Luft genießen, während sie mit Woodrow Tennis spielte und Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmiedete. Stattdessen saß sie in einer heißen, staubigen Postkutsche fest gemeinsam mit Mrs Dunn, den Fitzgeralds und einem Soldaten, der vorgab zu schlafen. Mrs Dunn musterte ihre Reisegefährten, bevor sie Abigail einen vielsagenden Blick zuwarf. „Ihre Schwester hat also 'nen Soldaten geheiratet.“ Abigail hatte dies verraten, als sie ihre Fahrkarte bis Fort Laramie gelöst hatte. Mrs Dunn reiste noch ein paar Meilen weiter, während die Fitzgeralds sogar das Ende der Strecke ansteuerten, die Goldgräberstadt Deadwood. „Das is gut.“ Mrs Dunn nickte, wodurch einiges von ihrem großzügig aufgetragenen Gesichtspuder in die Tiefe rieselte. Mama wäre nicht damit einverstanden gewesen, wie Mrs Dunn ihr Gesicht bemalt hatte. Sie hatte immer behauptet, dass nur Schauspielerinnen und „gefallene Frauen“ das Bedürfnis verspürten, ihre gottgegebene Schönheit aufzupolieren. Allerdings hatte Mama auch die Sonne und den Wind von Wyoming nicht erlebt. Vielleicht waren Farbe und Puder die einzige Möglichkeit, um einen damenhaften Teint zu bewahren. „Soldat is ’n anständiger Beruf“, verkündete Mrs Dunn. „Eine Frau könnte es schlechter treffen.“ Und sehr viel besser. Charlotte hätte auch einen Mann heiraten können, dessen Beruf etwas – irgendetwas – anderes beinhaltete, als andere Menschen zu töten. Abigail verkniff sich jedoch den entsprechenden Kommentar. Sie verspürte wirklich kein Bedürfnis, jetzt ein Streitgespräch zu beginnen. Stattdessen zwang sie ein Lächeln auf ihr Gesicht und ließ die ältere Dame mit ihrem Monolog fortfahren. Vielleicht würde sie irgendwann ermüden und von selbst damit aufhören. Obwohl Mrs Dunn nach Abigails Einschätzung erst Mitte vierzig war, bewegte sie sich wie eine sehr viel ältere Frau. Dies kam daher, so hatte sie wortreich erläutert, dass sie in ein Erdhörnchenloch getreten war. „Hab mir den Knöchel gebrochen und der is nie wieder so richtig geworden. Werd wohl für den Rest meiner Tage humpeln müssen.“ Diese Erfahrung hatte auch nicht gerade dazu beigetragen, dass Abigails Abneigung gegen Wyoming gemindert wurde. Wind, Staub, Erdhörnchenlöcher. Jede Meile offenbarte einen weiteren unerfreulichen Aspekt von Charlottes neuer Heimat. Mrs Dunn beugte sich zu ihr herüber und tätschelte Abigails Hand. „Würd mich nich überraschen, wenn Sie sich im Fort selbst einen Ehemann angeln. Soldaten sind ganz schön einsam und immer auf ’ne Frau aus. Sie müssen sich in Acht nehmen, denn das sind nich alle ehrenwerte Männer.“ „Ich suche nicht nach einem Ehemann.“ Selbst wenn sie mit Woodrow nicht so gut wie verlobt wäre, würde Abigail ganz bestimmt nicht in einem Fort der Armee nach einem Ehepartner suchen. Sie war nicht für das Leben einer Soldatenfrau gemacht. Ganz bestimmt nicht. Gott hatte sie vielleicht hierher geschickt, aber es war nicht sein Plan, dass sie hier blieb. Davon war Abigail genauso felsenfest überzeugt wie von ihrer Annahme, dass im Leben ihrer Schwester irgendetwas ernsthaft schief lief. Während sie erneut an den Bändern ihres Pompadours herumnestelte, schüttelte Mrs Dunn den Kopf. „Blödsinn. Jede Frau sucht nach einem eigenen Mann. Gucken Sie sich doch mal den Leutnant an.“ Abigail hatte genau das getan, als sie in die Postkutsche gestiegen war. Der Mann, der sich selbst als Leutnant Bowles vorgestellt hatte, war mindestens 15 cm größer als sie selbst mit ihren 1,68 m. Er hatte blonde Haare und Augen, deren Blau beinahe genauso tief war wie der Himmel von Wyoming. Seine Uniform glich der Kleidung, die Jeffrey bei seiner Hochzeit mit Charlotte getragen hatte: eine dunkelblaue, langgeschnittene Jacke mit sieben Messingknöpfen auf jeder Seite sowie eine leichte blaue Wollhose mit einem weißen Streifen, der die Zugehörigkeit zur Infanterie kennzeichnete. Während sich Jeffrey jedoch ein bisschen unwohl darin gefühlt hatte, trug dieser Mann seine Uniform wie eine zweite Haut. Abigail hatte durchaus bemerkt, dass Leutnant Bowles’ Uniform seinen breiten Schultern und langen Beinen schmeichelten, aber was ihre Aufmerksamkeit immer wieder anzog, waren seine Lippen. Obwohl nicht voller als bei anderen Männern, waren sie erstaunlich ausdrucksvoll. Auch zuckten oder verzogen sie sich bei jedem der haarsträubenden Kommentare, die Mrs Dunn äußerte. Dabei blieb der Rest seines Gesichtes so unbeweglich, als würde Leutnant Bowles tatsächlich schlafen. „Er wäre ein guter Ehemann für Sie“, beschloss Mrs Dunn. Abigail warf einen Blick in Richtung ihres Mitreisenden. Obwohl es so aussah, als würde er gegen ein Lächeln ankämpfen, fand sie es nicht lustig, dass Mrs Dunn ständig Dinge verkündete, die jeder Grundlage entbehrten. Da war zum Beispiel die Art und Weise, in der sie versuchte, ihr ausgesprochen altmodisches Verständnis von Anstand durchzusetzen. Es wäre kein Problem gewesen, wenn Abigail auf dem gegenüberliegenden Platz gesessen hätte. „Is ziemlich wahrscheinlich, dass er nich verheiratet ist. Man kann natürlich nie sicher sein. Er könnte irgendwo ein Mädel haben. Ich denke, ich werd ihn mal fragen, wenn er aufwacht.“ Abigail seufzte. Der Leutnant hatte es richtig gemacht. Sie hätte ebenfalls vortäuschen sollen zu schlafen. Ethan Bowles kämpfte mit aller Kraft dagegen an, dass sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen. Wenn die alte Schachtel wüsste, dass er wach war, würde er keine ruhige Minute mehr haben. Sie würde mit ihren neugierigen Fragen – die kaum weniger als ein Verhör waren – dann ihn löchern. Genau das hatte ihn von Anfang an dazu bewogen, den Schlafenden zu spielen. Und jetzt befasste sie sich ausführlich mit seinem Familienstand. Wenn sie wüsste, dass er ungebunden war, würde es noch wesentlich schlimmer werden. Ethan biss die Zähne zusammen. Warum hatten seine Mitmenschen immer das Bedürfnis, ihn verkuppeln zu wollen? Zuerst sein Großvater, dann so ziemlich jede verheiratete Frau, die er getroffen hatte. War ihnen denn nicht bewusst, dass manche Männer dazu bestimmt waren, Junggesellen zu bleiben? Und dass er ganz oben auf dieser Liste stand? Aber nein, sie schienen zu glauben, dass jeder alleinstehende Mann nur auf der Suche nach dem Eheglück sei. Falsch, falsch, falsch. Ethan verlagerte ein wenig sein Gewicht und wünschte, er könne seine Augen öffnen. Eine Reise verging schneller, wenn man die Umgebung genießen konnte. Und diese Reise eröffnete noch ganz andere Aussichten als die reizende Landschaft, durch die sie führte. Die junge Dame, die sich als Miss Harding vorgestellt hatte, war ausgesprochen hübsch, auch wenn die Kleidung, die sie trug, sehr unbequem sein musste. Der hochgeschlossene Kragen und die langen Ärmel waren vernünftig und zweckmäßig, ebenso die dunkelblaue Farbe – die Ähnlichkeit mit seiner Uniform hatte. Aber der Rock war völlig fehl am Platz. Sein Saum berührte beinahe den Boden, was bedeutete, dass er sämtlichen Staub der Prärie aufsammelte. Und dann besaß er hinten auch noch diese überflüssige Beule. Ethans Freund Oliver, der behauptete, alles zu wissen, was es über Frauen zu wissen gäbe, hatte ihn darüber informiert, dass die Damen dieses Polster Turnüren nannten. Ethan nannte es lächerlich. Warum sollte sich eine Dame etwas umbinden, das beim Hinsetzen unweigerlich im Wege wäre? Das einzig Positive, was Ethan an Mrs Dunn bemerkt hatte, war die Tatsache, dass sie keine solchen Erschwernisse mit sich herumtrug. Ihr Kleid war vielleicht nicht modisch, aber es war praktischer als die, die Miss Harding und Mrs Fitzgerald trugen. Wenn man von der albernen Bekleidung einmal absah, war Miss Harding durchaus einen zweiten Blick wert. Unterhalb des eleganten Hutes war ihr Haar zu einem dieser Knoten geschlungen, die anscheinend gerade Mode waren. Auch das konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Haar in einem hübschen Braunton schimmerte. Was Ethan am meisten faszinierte, waren ihre Augen. Wie ärgerlich, vortäuschen zu müssen, dass er schlief, denn er versuchte immer noch herauszufinden, welche Farbe sie hatten. Nicht ganz braun, nicht ganz grün, aber ausgesprochen hübsch, besonders, wenn Miss Harding lächelte. Er war sich sicher, dass er Spuren von Gold in ihren Augen entdeckt hatte. Die Witwe hatte Recht. Soldaten bekamen hier draußen nicht allzu viele Damen zu Gesicht. Und Damen, die so hübsch waren wie Miss Harding, waren so selten wie Goldklumpen im North Platte Fluss. Obwohl er kein Interesse – jedenfalls kein solches Interesse – an Miss Harding hatte, konnte Ethan nicht bestreiten, dass ihr Anblick ihm gefiel. Allerdings wollte er auf keinen Fall in eine weitere Unterhaltung mit Mrs Dunn verstrickt werden. Also hielt er seine Augen standhaft geschlossen. Die Jahre, in denen er den Gehässigkeiten seines Großvaters ausgewichen war, hatten ihn gelehrt, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. „Ham Sie in Vermont auf ’ner Farm gelebt?“, plapperte Mrs Dunn weiter. Da Ethan offensichtlich nicht zur Verfügung stand, ließ sie Miss Harding nicht aus den Klauen. Die Arme! Bis die junge Dame mit den faszinierenden Augen Fort Laramie erreicht hätte, würde jedes ihrer Geheimnisse enthüllt worden sein. „Nein.“ Es war nur ein einziges Wort, aber Ethan hörte den Widerwillen in Miss Hardings Stimme. Es schien, als würde sie die unangenehm neugierigen Fragen genauso wenig mögen wie er. Beim Einsteigen in die Postkutsche war er von Mrs Dunn mit einer wahren Fragenflut bombardiert worden. „Ich unterrichte an einer Mädchenschule.“ Seine Mundwinkel zuckten, als ihm bewusst wurde, dass sie deshalb so unnahbar geklungen und die kleine Unterrichtsstunde über den Ursprung des Namens Vermont erteilt hatte. Schullehrerinnen, zumindest solche, die Ethan kannte, waren steif und korrekt. Sie mussten es sein. Er hörte, wie Mrs Dunn tief Luft holte, bevor sie sprach. „Zu meiner Zeit“, sagte sie und ließ dabei keinen Zweifel an ihrer Missbilligung, „blieben Mädchen zu Hause und kümmerten sich um ihre Eltern, bis sie verheiratet waren. Sie nahmen tüchtigen Männern nicht die Arbeit weg.“ Natürlich gab es als Folge des Krieges weniger tüchtige Männer als vorher. Antietam, Gettysburg und die Kämpfe an den anderen Orten hatten Hoffnungen und Leben gleichermaßen zerstört. Ethan fragte sich, ob Miss Harding diese Tatsache erwähnen würde. Stattdessen sagte sie schlicht: „Es war der Wunsch meiner Eltern, dass ich Lehrerin werde. Glücklicherweise halte ich dies für eine lohnenswerte Tätigkeit.“ Und er hielt den Beruf des Soldaten für eine lohnenswerte Tätigkeit. Jedenfalls meistens. Heute verspürte er nur Enttäuschung. Enttäuschung über die Männer, die ihren Eid und ihre Verpflichtungen missachteten und von der Armee desertierten. Und noch größere Enttäuschung über sich selbst, der er nicht in der Lage war, sie zu finden. Er war in der Hoffnung nach Cheyenne gereist, ein Nest von Deserteuren zu finden, das es dort angeblich geben sollte. Stattdessen war er in eine Sackgasse nach der anderen geraten. Aus diesem Grund reiste er nun einen Tag früher als geplant zum Fort zurück. In Cheyenne zu bleiben, wäre nur Zeitverschwendung gewesen. Und wenn es etwas gab, das Ethan hasste, dann war es, seine Zeit nutzlos zu vergeuden. Wenn er sich den Respekt und die Achtung seines Kommandeurs verdienen wollte, konnte er sich nicht leisten, einen ganzen Tag lang zeillos durch die Straßen einer Stadt zu schlendern. Während Mrs Dunn mit vielen Worten die Vorteile eines Lebens in Wyoming pries, gab sich Ethan alle Mühe, ihre Stimme zu ignorieren. „Eins steht fest“, sagte die Witwe, wobei ihre Worte von den Seitenwänden der Postkutsche zurückgeworfen wurden, „das Leben hier is enorm friedlich.“ Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, die Unterhaltung der Damen nicht zu verfolgen, ertappte sich Ethan dabei, wie er auf Miss Hardings Antwort wartete. Als sie kam, war sie kaum mehr als ein Murmeln. „Manch einer könnte es langweilig nennen.“ Es war langweilig. Abigail starrte aus dem Fenster und versuchte, beim Anblick der Landschaft, die über endlose Meilen hinweg dieselbe blieb, nicht allzu finster dreinzublicken. Schon vor einer ganzen Weile hatten sie die Ranch wieder verlassen, in der sie Mittagsrast gemacht hatten. Das Essen dort war überraschend schmackhaft gewesen. Unglücklicherweise hatten Abigails Röcke dort die Bekanntschaft mit den Blättern einer Yuccapflanze gemacht. Seitdem hatte sie außer endlosen Hügelketten unter dem weitesten Himmel, der ihr jemals untergekommen war, nichts mehr zu Gesicht bekommen. Wie sie schon zu Mrs Dunn gesagt hatte: Der Himmel war wunderschön, aber Abigail brauchte mehr. Sogar eine Wolke hätte geholfen, die Monotonie zu vertreiben. Doch leider war nicht eine einzige am Himmel zu sehen. Es gab nur Sonne und Wind und langweilige, armselige Hügel. Wie konnte Charlotte das aushalten? Vielleicht konnte sie es nicht. Vielleicht war das Grund, weshalb ihre Briefe so melancholisch klangen. Obwohl ihre Schwester es leugnete, wusste Abigail, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn sie nur ein Buch zur Hand hätte! Es würde noch einige Stunden dauern, bis sie Fort Laramie erreichten. Jetzt, wo Mrs Dunn gnädigerweise eingeschlafen war, hätte Abigail ungestört lesen können. Zu dumm, dass all ihre Bücher sicher in ihrem Koffer verstaut waren, was ihr keine andere Möglichkeit ließ, als aus dem Fenster zu starren. Hügel und Gestrüpp. Gestrüpp und Hügel. Mehr nicht. Langweilig. Abigail war sich nicht sicher, wie lange sie ihre Augen schon in die Ferne gerichtet hatte, als sie die Staubwolke sah. Einen Moment lang fragte sie sich, ob es sich um eine Fata Morgana handelte. Sie hatte gehört, dass Reisende in der Wüste Bilder von Oasen mit lebensspendendem Wasser heraufbeschworen, nur um dann festzustellen, dass die schillernden Wasserstellen nicht mehr als eine optische Täuschung waren. Abigail war nicht auf der Suche nach Wasser, sondern sehnte sich nur nach menschlichen Behausungen. Aber der Staub musste eine Fata Morgana sein, denn Mrs Dunn hatte gesagt, dass es nur wenige Siedler in dieser Gegend gab. Abigail bildete sich einfach nur ein, dass die braune Wolke durch Pferde aufgewirbelt wurde. Dennoch kam der Staub näher. Schließlich erkannte sie, dass die Wolke von zwei Reitern verursacht wurde. Einer von ihnen ritt auf einem dunklen Pferd, der andere auf einem hellen Palomino. Abigail schluckte schwer. Sie war sich nicht sicher, ob der Schauer, der ihren Rücken hinunterrieselte, von freudiger Erwartung oder von Angst herrührte. „Da kommt jemand.“ Obwohl sie es nicht beabsichtigt hatte, sprach sie die Worte laut aus. Die Antwort kam sofort. „Wo?“ Leutnant Bowles reagierte schnell und bestätigte dadurch Abigails Verdacht, dass er nicht geschlafen hatte. In der einen Sekunde hatte er noch mit geschlossenen Augen auf dem Sitz gelehnt, in der anderen starrte er schon aus dem Fenster und beobachtete konzentriert die sich nähernden Reiter. Zuerst wurden seine ausdrucksvollen Lippen schmaler, dann verfinsterte sich auch sein Blick. „Da ist Ärger im Anmarsch“, sagte er knapp. „Wahrscheinlich Wegelagerer.“ Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog er seinen Revolver aus dem Halfter und brachte ihn auf dem Fenstersims in Stellung. Abigail zuckte zusammen, als ihr Verstand von lang verdrängten Bildern überflutet wurde. Nein!, wollte sie ausrufen. Halt! Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte, die Erinnerungen zu vertreiben. Denk an etwas anderes. Irgendetwas. Sie klammerte sich an den ungewohnten Ausdruck, den der Leutnant verwendet hatte, und fragte: „Wegelagerer?“ „Banditen.“ Abigails Herz begann zu galoppieren. Obwohl sie einige von Schülern konfiszierte Groschenromane gelesen hatte, war sie davon ausgegangen, dass die Geschichten von Banditen, welche Postkutschen überfielen, Hirngespinste seien. Jetzt würde sie allem Anschein nach einen Überfall erleben und – wenn die Geschichten doch ein Körnchen Wahrheit enthielten – dann bedeutete das … Sie biss sich erneut auf die Lippe und spürte den metallischen Geschmack von Blut. Blut, genauso wie … Sie konzentrierte sich auf Leutnant Bowles und versuchte die Erinnerungen auf diese Weise zu bannen. Ohne die Augen von den Reitern zu nehmen, zeigte der Leutnant auf die gegenüberliegende Seite der Kutsche. „Bleiben Sie zurück“, befahl er, „und sorgen Sie dafür, dass die anderen ruhig bleiben.“ Obwohl Mrs Dunn noch immer so fest schlief, dass sie sogar ihren Pompadour losgelassen hatte, und obwohl Mrs Fitzgerald ein bisschen schnarchte, bezweifelte Abigail nicht, dass die Frauen schreien würden, sobald sie begriffen, was vor sich ging. Sie hatte keine Ahnung, was Mr Fitzgerald tun würde, aber sie wusste, dass jegliche Ablenkung gefährlich werden könnte. Abigail atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, dann warf sie einen weiteren Blick auf die herannahenden Männer. Sie würde auf keinen – auf gar keinen – Fall auf den Revolver des Leutnants schauen. „Es sind Soldaten.“ Sie flüsterte, weil sie die anderen nicht wecken wollte. Die Uniformen der herannahenden Reiter hatten die gleiche Farbe wie die von Leutnant Bowles. Der einzige Unterschied im Äußeren bestand darin, dass diese Männer Halstücher über ihr Gesicht gezogen hatten. „Wahrscheinlich Deserteure, die nichts Gutes im Schilde führen.“ Leutnant Bowles lehnte sich aus dem Fenster und rief in Richtung des Kutschers: „Halten Sie nicht an. Auf gar keinen Fall! Was auch passiert, Sie halten erst an, wenn ich es Ihnen sage.“ „Aber Sir …“ Angst begleitete die Worte des Kutschers. „Vertrauen Sie mir. Fahren Sie weiter.“ Der Kutscher knallte mit der Peitsche, so dass die Pferde zu rennen begannen, wodurch die Kutsche ins Schwanken geriet. Als ihr der Pompadour vom Schoß fiel, riss Mrs Dunn die Augen auf. „Was geht hier vor?“, kreischte sie, als ihr Blick auf die Waffe fiel, die der Leutnant gezogen hatte. Der Schrei weckte die Fitzgeralds. Mit schreckgeweiteten Augen klammerte sich Mrs Fitzgerald an ihren Ehemann. „Seien Sie alle still.“ Abigail schlug den scharfen Ton an, dessen sie sich bei besonders aufsässigen Schülerinnen bediente. „Das sind Banditen.“ Sie schlang ihren Arm um Mrs Dunns Schultern und drückte sie in ihren Sitz. Wenn Leutnant Bowles das Gold retten wollte oder das, was die Gauner ansonsten im Sinn hatten, zu verhindern versuchte, konnte er keine Störungen gebrauchen. „Nein!“ Mrs Dunn kämpfte gegen Abigail an. Dabei flogen ihre Augen von dem Leutnant zu ihrem Schoß zurück. „Mein Pompadour! Ich brauche meinen Pompadour.“ Die schwere Tasche war auf die andere Seite der Kutsche gerutscht, wo sie neben den Füßen des Leutnants lag. Mr Fitzgerald beugte sich herab, um den Pompadour aufzuheben, doch Abigail schüttelte energisch den Kopf. „Nicht jetzt.“ Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie die Banditen immer näher kamen. In einigen Sekunden würden sie die Kutsche erreichen. Und dann … Lieber Gott, beschütze uns. „Riechsalz! Ich brauch mein Riechsalz!“ Mrs Dunns herrischer Tonfall verschlimmerte Mrs Fitzgeralds Gejammer. Als die Witwe versuchte, sich aus Abigails Umklammerung zu befreien, um zu ihrem Pompadour zu gelangen, zog Abigail aus ihrer eigenen Tasche ein kleines Fläschchen hervor. Mama hatte darauf bestanden, dass eine Dame immer Riechsalz bei sich führen müsse. Sie war der Meinung, dass man jederzeit für einen Notfall gerüstet sein sollte. Aber selbst Mama, die mit einer sehr lebhaften Fantasie gesegnet war, hatte sicher nicht an einen Fall wie diesen gedacht. „Hier.“ Abigail öffnete die Flasche und hielt sie Mrs Dunn unter die Nase, die vor Empörung schnaubte. Mrs Fitzgerald vergrub ihr Gesicht im Mantel ihres Mannes und schluchzte leise, während Mr Fitzgerald beruhigend auf sie einredete. Draußen rief der Reiter auf dem Palomino seinem Gefährten etwas zu, woraufhin dieser sein Gewehr hob und auf den Kutscher zielte. Abigail schauderte, während panische Angst durch ihre Adern strömte. Bitte nicht. Der Kutscher war ein unschuldiger Mann, der nur seiner Arbeit nachging. Er verdiente es nicht zu sterben. Niemand tat das. Jedenfalls nicht so. Während die Kutsche halsbrecherisch hin und her schlingerte, hörte Abigail das Geräusch einer knallenden Peitsche und einen verzweifelten Aufschrei. Sie umklammerte Mrs Dunn noch fester. Wenn sie schon nicht in der Lage war, dem Kutscher zu helfen, so konnte sie zumindest ihre Mitreisende vom Fenster und der damit verbundenen Gefahr fern halten. „Gib mir Geld“, rief der Bandit. Sein starker Akzent in seinem gebrochenen Englisch verriet, dass seine Muttersprache deutsch war. Der Leutnant murmelte etwas vor sich hin. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass es etwas sehr Unschmeichelhaftes war. „Gib mir Geld. Sofort!“, wiederholte der Mann. Nun antwortete Leutnant Bowles laut und deutlich, wobei er seinen Blick nicht von den Angreifern abwandte: „Es gibt kein Geld oder sonst irgendetwas.“ „Hör nich auf ihn“, sagte der Mann auf dem Palomino zu seinem Gefährten. „Er is nur einer und wir sind zwei.“ Obwohl auch sein Englisch nicht das Beste war, sprach er ohne Akzent. „Halt, sage ich“, befahl der Deutsche. „Halt oder ich schieße.“ Er untermauerte seine Drohung mit einem Schuss in die Luft. „Das war kleine Warnung“, fuhr er in gebrochenem Englisch fort. „Gleich wird keine Warnung mehr sein.“ Als Mrs Dunn zu sprechen begann, presste Abigail ihr blitzschnell die Hand vor den Mund. Nichts, was sie sagen konnte, nichts, was irgendjemand sonst sagen konnte, würde helfen. Alles hing von Leutnant Bowles ab. Hilf ihm. Abigail schickte ein stilles Gebet zum Himmel. Obwohl sie die Anweisungen des Leutnants befolgt und sich soweit wie möglich in die Kutsche zurückgezogen hatte, konnte sie die beiden Angreifer sehr gut sehen. Der mit dem starken Akzent ließ sein Gewehr kurz sinken, bis er es ein weiteres Mal auf den Kutscher richtete. Er kam jetzt näher, so dass Abigail sein Gesicht erkennen konnte. Dieser Anblick drehte ihr den Magen um. „Halt!“, brüllte der Bandit. „Ich will Geld.“ In seiner Stimme lag so viel Hass, dass Abigail wusste, dass er vor einem Mord nicht zurückschrecken würde. „Hilfe!“ Die Stimme des Kutschers war panisch. „Helfen Sie mir.“ Es gab nur einen möglichen Ausweg. Abigail wusste das, auch sich alles in ihr gegen diesen Gedanken sträubte. Wenn Leutnant Bowles jetzt nicht handelte, würde der Kutscher sterben. Es gab nur zwei Möglichkeiten: zu töten oder dabei zuzusehen, wie ein Unschuldiger – vielleicht mehr als einer – umgebracht wurde. Als der Leutnant auf den Abzug drückte, füllte das ohrenbetäubende Geräusch des Revolvers die Kutsche. „Oh nein!“ Mrs Fitzgerald sank ohnmächtig zusammen. „Halt!“, kreischte Mrs Dunn, während sie versuchte, Abigails Griff zu entkommen. „Der Herr sagt: ‚Du sollst nicht töten‘!“ Aber der Leutnant hatte niemanden getötet, erkannte Abigail fast ein wenig ungläubig. Irgendwie, auch wenn es ihr fast unmöglich erschien, hatte er den Banditen nur so sehr verwundet, dass dieser sein Gewehr fallen gelassen hatte und jetzt seine Hand umklammerte. „Lass uns abhauen.“ Der andere Bandit zügelte sein Pferd, drehte um und jagte davon. Dabei blickte er nicht einmal zurück, um festzustellen, ob sein verwundeter Gefährte hinter ihm war. Der Deutsche, der sich vor Schmerzen krümmte, folgte ihm langsamer. Die Gefahr war vorbei. Der Herr hatte ihre Gebete beantwortet. Niemand war getötet worden. Nicht heute. Abigail spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Sie fühlte sich plötzlich so kraftlos wie ein welker Stängel Sellerie. Während Mr Fitzgerald Abigails Riechsalz unter die Nase seiner Frau hielt, lockerte Abigail ihren Griff um Mrs Dunn und wandte sich dem Leutnant zu. Dieser musterte gerade prüfend die anderen Passagiere. „Danke“, sagte sie sanft. „Ich weiß nicht, was wir ohne Sie getan hätten.“ „Ich tue nur meine Arbeit, Miss.“ Seine Stimme war so ruhig, als vereitele er jeden Tag Raubüberfälle. Vielleicht tat er das auch. Der Leutnant lehnte sich erneut aus dem Fenster und wandte sich an den Kutscher. „Sie können jetzt anhalten. Ich bezweifle, dass die Banditen zurückkommen werden, aber ich werde neben Ihnen sitzen, nur für den Fall der Fälle.“ „Was ist mit uns?“, fragte Mrs Dunn. Sie hatte ihren Pompadour wiederbekommen und umklammerte ihn, als enthielte er ihre wertvollsten Besitztümer, nicht nur ein Taschentuch und eine Flasche Riechsalz. „Ich denke, wir brauchen ebenfalls Schutz.“ Obwohl es um die Mundwinkel des Leutnants verdächtig zuckte, war seine Stimme ernst, als er versicherte: „Sie sind in Sicherheit, Ma’am, aber Sie fühlen sich vielleicht besser, wenn Sie die Verdunkelung herunterziehen und sich in die Mitte der Kutsche setzen.“ Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, konnte Abigail nicht mehr verhindern, dass sie am ganzen Körper zitterte. Dieses Land war schlimmer, viel schlimmer, als sie geglaubt hatte. Staub und Wind und unbarmherzige Hitze waren nichts im Vergleich zu mordenden Gesetzlosen. Wer wusste schon, was passiert wäre, wenn es den Leutnant nicht gegeben hätte? Sie blickte aus dem Fenster auf die trostlose Landschaft. Jetzt suchte sie nicht mehr nach Anzeichen für menschliches Leben. Eine karge Umgebung, sogar Yuccas, waren die bessere Alternative. Als ihr Blick den von Leutnant Bowles kreuzte, sagte Abigail mit fester Stimme: „Wyoming ist kein Ort, an dem man leben kann.“ Was sie bereits geahnt hatte, wusste sie nun mit Sicherheit: Leutnant Bowles versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken. „Damit könnten Sie recht haben.“ Er lächelte, als er hinzufügte: „Aber Sie müssen zugeben, dass es nicht langweilig ist.“

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