Rona Jaffe: die große Wiederentdeckung
Sie waren völlig verschieden, aber das Abenteuer Erwachsenwerden schweißte sie auf dem College zusammen: die bildhübsche Daphne, die schüchterne Emily, die selbstbewusste Chris und die lebenslustige Annabel. Es ist das Jahr 1957, als ihre Reise ins richtige Leben beginnt, und zwanzig Jahre später, zum Klassentreffen 1977, ist die Welt eine andere. Und auch im Kleinen, Persönlichen hat sich viel geändert, Ehen wurden geschlossen und geschieden, Kinder geboren, Träume gelebt und Alpträume durchlitten. Das Wiedersehen weckt bittersüße Erinnerungen an die Wünsche von einst. Und die Frage, ob man nicht noch einmal ganz von vorne anfangen soll…
Rona Jaffe: die große Wiederentdeckung
Sie waren völlig verschieden, aber das Abenteuer Erwachsenwerden schweißte sie auf dem College zusammen: die bildhübsche Daphne, die schüchterne Emily, die selbstbewusste Chris und die lebenslustige Annabel. Es ist das Jahr 1957, als ihre Reise ins richtige Leben beginnt, und zwanzig Jahre später, zum Klassentreffen 1977, ist die Welt eine andere. Und auch im Kleinen, Persönlichen hat sich viel geändert, Ehen wurden geschlossen und geschieden, Kinder geboren, Träume gelebt und Alpträume durchlitten. Das Wiedersehen weckt bittersüße Erinnerungen an die Wünsche von einst. Und die Frage, ob man nicht noch einmal ganz von vorne anfangen soll…


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Overview
Rona Jaffe: die große Wiederentdeckung
Sie waren völlig verschieden, aber das Abenteuer Erwachsenwerden schweißte sie auf dem College zusammen: die bildhübsche Daphne, die schüchterne Emily, die selbstbewusste Chris und die lebenslustige Annabel. Es ist das Jahr 1957, als ihre Reise ins richtige Leben beginnt, und zwanzig Jahre später, zum Klassentreffen 1977, ist die Welt eine andere. Und auch im Kleinen, Persönlichen hat sich viel geändert, Ehen wurden geschlossen und geschieden, Kinder geboren, Träume gelebt und Alpträume durchlitten. Das Wiedersehen weckt bittersüße Erinnerungen an die Wünsche von einst. Und die Frage, ob man nicht noch einmal ganz von vorne anfangen soll…
Product Details
ISBN-13: | 9783843717816 |
---|---|
Publisher: | Ullstein Ebooks |
Publication date: | 09/07/2018 |
Sold by: | Bookwire |
Format: | eBook |
Pages: | 384 |
File size: | 3 MB |
Language: | German |
About the Author
Read an Excerpt
CHAPTER 1
Alle Sachbuch-Bestseller in diesem Jahr hatten religiöse Themen, ausgenommen drei: Der Kinsey-Report über die Sexualität der Frau, Polly Adlers Lebenserinnerungen als Puffmutter und ein Buch über Golf. Es war eine Zeit des verstohlenen Sex mit schlechtem Gewissen. Die Leute redeten fortwährend von Liebe und heirateten Fremde.
Emily Applebaums Eltern brachten sie im Zug ins College und halfen ihr beim Einzug. Es war der erste Tag der Einführungswoche für die Neulinge, ein klarer, sonniger Herbsttag; die Blätter färbten sich langsam bunt. Die roten Ziegelgebäude unter dem blauen Himmel ließen den Campus aussehen wie eine Ansichtskarte aus Neuengland.
Man hatte Emily ein Zimmer in Briggs Hall zugewiesen, ein Einzelzimmer, auf Wunsch. Ihrer Mutter wäre eine Zimmergenossin lieber gewesen, dann hätte Emily von Anfang an eine Freundin gehabt, aber Emily war ganz unwohl bei der Vorstellung, ihr Zimmer mit einer Person zu teilen, die sie gar nicht kannte, und als sie die winzige Zelle sah, wusste sie, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.
Das Zimmer war ein schmales Rechteck; am einen Ende führte eine Tür auf den langen Flur mit einer ganzen Reihe ähnlicher Zimmer, am anderen Ende sah man aus einem großen Fenster auf einen Rasenplatz, den Quadrangle.
Briggs Hall war eins der sieben Wohnheime, die den Quad einrahmten und von denen jedes einen charakteristischen eigenen Ruf hatte. Briggs Hall galt als das geselligste mit den hübschesten und umschwärmtesten Mädchen. Emily war begeistert, dass man sie hier einquartiert hatte. Die College-Zeit versprach, ein Abenteuer zu werden – zum ersten Mal war sie selbstständig, und dann diese vielen Harvard-Jünglinge, mit denen man sich verabreden konnte! Es gab ja nicht nur die Harvard-Schüler, auch die angeschlossenen Universitätsinstitute steckten voller Männer: die medizinische Fakultät, die juristische Fakultät, und es gab sogar eine Architekturabteilung. Und unten am Charles River lag dann noch das M.I.T., das Elite-Institut für die ganz klugen Köpfe.
»Hier findest du bestimmt auch einen Mann zum Heiraten, wenn du willst«, sagte ihre Mutter, während sie ihr beim Auspacken half. »Ich hoffe, du vergisst darüber nicht dein Studium, damit du nicht durchfällst.«
»Du kannst erst durchfallen, wenn du verlobt bist«, sagte ihr Vater und lachte. Er wusste, Emily war viel zu klug, um durchzufallen. Er war so stolz auf sie. Der Vater ihres Vaters war aus Europa nach New York gekommen, hatte in einer Mietskaserne in der Hester Street gewohnt, in der Fabrik gearbeitet und bis zu seinem Tode einen starken Akzent beibehalten. Ihr Vater hatte nie ein College besucht, war aber Schuhkönig geworden; er besaß eine Schuhgeschäftskette im ganzen Osten. Die Familie bewohnte ein hübsches Haus im Kolonialstil am Stadtrand und war Mitglied im Country Club, und Emily ging als erstes Mädchen in ihrer Familie aufs College – und dann gleich nach Radcliffe!
Und so war sie jetzt hier, im Begriff, zum ersten Mal im Leben unabhängig zu sein, in einer fremden Stadt, an einer riesigen Universität; und sie hatte Todesängste. Ihr Vater stellte den faltbaren Kleiderschrank auf, den ihr die Eltern gekauft hatten, weil es in ihrem Zimmer nur einen einzigen Schrank gab. Ihre Eltern hatten ihr ein bescheidenes Konto auf der Bank am Harvard Square eingerichtet – auch das war etwas Neues –, damit sie Schulbücher kaufen und ihr Zimmer einrichten konnte. Sie sah sich verstört um. Ein schmales Bett mit einer gestreiften Matratze, ein zerkratzter Schreibtisch mit einem Stuhl, eine passende schäbige Kommode, alles abgenutzt, und ein Bücherregal. Auf dem Schreibtisch eine düstere Metalllampe. Emily spürte einen Kloß im Hals und merkte, dass sie jetzt schon Heimweh hatte.
Sie war ein Einzelkind und hatte noch nie eine Reise ohne ihre Eltern unternommen. In den Schulferien wurde Emily in Kurhotels nach Florida, Bermuda, Hawaii, Vermont, New Hampshire mitgenommen, damit sie nette jüdische Jungen kennenlernte. Sie hatte sogar jahrelang Tennisunterricht genommen, obwohl sie Sport nicht ausstehen konnte. Auf dem Tennisplatz konnte man immer Jungen treffen.
»Denk daran, Emily«, sagte ihre Mutter, »ich möchte nicht, dass du deine Zeit mit Wäschewaschen verschwendest. Schick sie ruhig nach Hause.«
»Ist gut, Mom.«
Die Mutter sah sich um in der schäbigen kleinen Bude, in der ihre Tochter das nächste Jahr verbringen sollte. »Kauf dir einen Bettüberwurf und einen kleinen Teppich, und du wirst sehen, wie hübsch du's dir in diesem Zimmer machen kannst«, sagte sie aufmunternd.
Die groben weißen Musselinlaken aus Collegebeständen lagen säuberlich zusammengefaltet am Fußende des Betts. Emily bedauerte jetzt, dass sie nicht darauf bestanden hatte, ihre eigene Bettwäsche mitzubringen, aber sie hatte ohnehin schon so viel mitgebracht. Sie hatte Heimweh wie noch nie. Sie holte ihre Gedächtniskerze aus ihrem Koffer, stellte sie oben auf das Bücherregal und fühlte sich ein bisschen besser.
»Aber, Emily, wie konntest du nur dieses scheußliche Ding mitnehmen!«, sagte ihre Mutter.
Emily war leidenschaftliche Sammlerin von Andenken. Die Gedächtniskerze, die sie selbst angefertigt hatte, war eine Erinnerung an ihre Abschlussfeier auf der Scarsdale High School. Sie bestand aus einem Glas mit gefärbtem Wasser, Platzkarten, Streichholzbriefchen, einem Bleistiftstummel, mit dem sich ein Junge ihre College-Adresse aufgeschrieben hatte, dem Band ihrer Korsage und sogar der Kippe der Zigarette, die ihr Partner auf dem Ball geraucht hatte. Um diese Schätze zu konservieren, hatte sie zuoberst eine dicke Schicht Wachs geschmolzen. Das Experiment war ziemlich misslungen, da sämtliche Gegenstände Farbe und Form verloren hatten und nur noch trübe in der zähen blauen Brühe herumschwammen. Doch diese Gedächtniskerze war alles, was ihr von dem großen Abschlussball geblieben war, und sie wollte sie unbedingt behalten. Fürs College hatte sie ein dickes Sammelalbum gekauft und sich vorgenommen, jedes Souvenir darin aufzubewahren, das ihr bei dem zukünftigen gesellschaftlichen Leben in die Hände fiel. Sie freute sich auf dieses Leben, denn sie wusste genau, es war die letzte Gelegenheit für Spaß und Ungebundenheit. Hatte sie erst das Examen gemacht, würde sie heiraten und sich etablieren.
Der Besuch eines guten Colleges war eine ebenso genau geplante Etappe auf Emilys Weg zu einer guten Partie, wie es die jahrelangen Tennisstunden und die Kurhotels gewesen waren. Doch College bedeutete noch etwas anderes; sie wagte zwar nicht, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, sie hatte Angst, sie würden sie auslachen, aber Emily träumte zuweilen von einem ganz anderen Leben. Sie wollte nicht heiraten, bevor sie fünfundzwanzig war. Das war allerdings sehr spät; also dann vielleicht vierundzwanzig. Vor der Heirat jedenfalls wollte sie Medizin studieren. Und hier brach der Traum ab. Sie wusste nicht, ob sie den Mut hatte, das alles durchzuhalten: das Praktikum im Krankenhaus, richtig handfeste Medizin. Aber sie war auf eines der besten Colleges der Vereinigten Staaten gekommen, und damit konnte sie alles studieren, was sie wollte, bei den besten Professoren. Sie hatte sich immer für Medizin interessiert, und sie half gern Menschen. Vielleicht könnte sie Kinderärztin werden und kleine Kinder behandeln. So ein Beruf war gleichzeitig intellektuell und weiblich. Und vielleicht könnte sie einen Arzt heiraten, und sie könnten zusammenarbeiten. Er könnte Erwachsene behandeln und sie Kinder, und nach Feierabend würden sie gemeinsam zu Abend essen (sie würden eine Köchin haben) und ihre Erfahrungen austauschen.
»Ist das etwa das einzige Bad da hinten im Flur?« Die Stimme ihrer Mutter riss sie aus ihrem Tagtraum.
»Ich weiß nicht«, sagte Emily.
»Lass deine Handtücher nicht da liegen. Sonst benutzt sie jemand, und du kriegst wer weiß was. Und leg Papier auf den Toilettensitz.«
»Ja, Mom.«
»Und setz dich nicht in diese grässliche Badewanne. Nimm lieber eine Dusche. Du kannst die Wanne so sauber schrubben wie du willst, es ist nie wie zu Hause.«
»Ist gut.«
Der Vater sah auf die Armbanduhr. »Wir müssen gehen. Sie geht jetzt aufs College und kann selbst auf sich aufpassen.«
»Vergiss nicht, das Obst zu essen«, sagte ihre Mutter.
»Ich lasse dir Birnen da, Äpfel und die Trauben ohne Kerne, die du so gern magst. Es ist alles gewaschen. Teil's mit den anderen Mädchen, dann wirst du dich rasch anfreunden.« Emily sah ihren Eltern aus dem Fenster nach, wie sie in das Taxi stiegen. Es fuhr davon, und plötzlich hatte sie überhaupt kein Heimweh mehr; sie war ganz aufgeregt. Das Abenteuer begann.
Sie erkundete das Wohnheim. Immer noch kamen Mädchen an, kämpften sich mit ihrem Gepäck die vier steilen Treppen hinauf. Die ganz neuen Schülerinnen mussten im obersten Stockwerk wohnen, sie waren noch nicht so bedeutend. Im Erdgeschoss lag ein riesiger Aufenthaltsraum mit einem Kamin an jeder Stirnseite und dunklen, bedrückenden Möbeln. In der großen Eingangshalle neben der Tür standen ein Pult und eine Tafel, auf der anderen Seite der Tür war eine kleine Postkammer mit einem Fach für jedes Mädchen, wo es Briefe und Anrufe entgegennehmen konnte. Jenseits der großen Eingangshalle gab es zwei Spielzimmer mit Bridgetischen und Stühlen, und weiter hinten lag ein freundlicher Speisesaal mit vielen Fenstern, einem Kamin und Türen zur Küche. Im ersten Stock gab es eine Telefonzelle, und an einem langen Seitenflur lagen noch ein paar Räume.
An diesem Nachmittag fand im Aufenthaltsraum eine Versammlung statt, bei der die Neuankömmlinge mit der Hausordnung und anderen festen Regeln bekannt gemacht werden sollten.
Um zehn Uhr war Zapfenstreich. Die Schülerinnen im ersten Jahr durften zweimal in der Woche bis ein Uhr ausbleiben. Sonntags abends war Ausgang bis elf Uhr, es war also klar, dass alle ihre Ausgangserlaubnis freitags und samstags nutzten. Jedes Mädchen bekam einen Schlüssel. Neben der Eingangstür lag ein Ausgangsbuch. Dort mussten alle eintragen, wann und wohin sie gegangen waren, und – das Wichtigste – wann sie zurückkamen. Schummeln war nicht erlaubt. Wer nach ein Uhr zurückkam – und es kam auf jeden Fall heraus –, musste sich dem Hauskomitee stellen, das war eine gewählte Gruppe von Mädchen aus dem Wohnheim, die die Strafe festsetzte. Strafe hieß immer Ausgangsperre, man musste also an so und so vielen Abenden um acht Uhr oben sein und konnte keine Verabredungen treffen. Männerbesuch war selbstverständlich verboten, in den oberen Stockwerken des Wohnheims wurden Männer unter keinen Umständen geduldet.
Die Ämter, für die alle eingeteilt wurden, damit die Schulkosten niedrig blieben, waren Tischdienst im Speisesaal, Geschirrabräumen und Telefondienst. Den Telefondienst verrichteten meist die höheren Semester, denn dieser Job war entschieden attraktiver als der Tischdienst. Man musste an zwei Tagen in der Woche jeweils zwei Stunden arbeiten. Wenn ein Anruf kam, klingelte man bei dem betreffenden Mädchen – jedes Zimmer war mit einem Summer und einer Ruflampe über der Tür versehen, und in der Wäschekammer in jeder Etage war ein Telefon. War das Mädchen nicht da, legte man ihm eine Nachricht ins Postfach. Da kein Mann darum bat, zurückgerufen zu werden, und es als unglaublich aufdringlich galt, noch einmal anzurufen, war der Telefondienst bei Weitem nicht so anstrengend, wie er hätte sein können, denn man brauchte nicht einmal Nummern zu notieren. Emily beschloss, sich möglichst nie zum Frühstücksdienst einteilen zu lassen, sie stand ungern früh auf.
Nach dem Abendessen servierte die Hausmutter im Aufenthaltsraum Mokka, dieses Ritual hieß »kultiviertes Leben«. Eine Schülerin in Radcliffe musste ein kultiviertes Leben zu führen und sich wie eine Dame zu benehmen verstehen. Im Unterricht durften keine Jeans getragen werden, auch nicht auf dem Harvard Square oder beim Abendessen im Wohnheim. Da Emily ohnehin keine Jeans besaß, war dies für sie ein akademisches Problem. Hosen waren überhaupt verboten, sogar bei Schnee.
Rauchen auf den Zimmern war auch verboten. Dafür gab es ein Rauchzimmer in jedem Stockwerk.
Jedes Mädchen erhielt eine Abschrift des Programms für die Einführungswoche. An den Vormittagen konnten sie sich für die Unterrichtsfächer einschreiben und sich mit den Studienberatern über die Wahl ihrer Hauptfächer unterhalten. Einige Fächer waren Pflicht – Englisch für Neulinge zum Beispiel. Das mussten sie in Radcliffe selbst nehmen. Alle anderen Fächer konnten sie wahlweise in Harvard belegen. Das nahm Emily sich fest vor.
Sie durften mit keinem Mann in die Männerwohnheime gehen, es sei denn, eine dritte Person war als Aufpasser dabei oder es gab eine Party. Die Männer bekamen Schwierigkeiten bei Verstoß gegen diese für alle Häuser von Harvard gültige Regel, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, in die die Mädchen gerieten. Alle lachten bei diesem Hinweis, weil alle wussten, was damit gemeint war.
Während der Einführungswoche würden sie auch lernen, sich abzuseilen, damit sie bei Feuer aus dem Wohnheim kamen, und eine Schwimmprüfung ablegen. Man wurde nur mit einem Schwimmschein zum Examen zugelassen, also brachte man den möglichst schnell hinter sich. Emily fragte sich, ob ein Schwimmschein unbedingt nötig war, um eine Dame zu sein.
Sie sah sich im Raum um und betrachtete die anderen Mädchen. Die Mädchen auf der Highschool waren eifrig bemüht gewesen, alle gleich auszusehen; die Mädchen hier sahen alle ganz verschieden aus. Emily hörte zum ersten Mal in ihrem Leben verschiedene Dialekte, und es kam ihr fast vor wie ein Wunder, dass sie mit Mädchen aus allen Gegenden des Landes in einem Heim lebte, mit Leuten, denen sie nie begegnet wäre, wenn sie nicht aufs College ginge. Hier waren so viele Fremde, und sie kannte noch nicht einmal alle Namen, aber sie war neugierig, wer die anderen Jüdinnen waren.
Nach der Versammlung schlenderten die Mädchen herum und machten sich bekannt. Emily war schüchtern und ging nach oben in ihr Zimmer, um ihre Zigaretten zu holen.
Sie hatte ihren kleinen Aschenbecher von zu Hause mitgebracht, und weil sie zu scheu war, ins Rauchzimmer zu gehen, setzte sie sich vor ihrem Zimmer auf den Fußboden und zündete sich eine Zigarette an. Nur diese eine, gelobte sie sich, und das nächste Mal gehe ich ins Raucherzimmer und lerne ein paar Mädchen kennen. Sie war sicher, dass die anderen ebenso schüchtern waren und sich genau so fremd vorkamen wie sie selbst, aber gleichzeitig wünschte sie sich, irgendeine käme auf sie zu und spräche sie an.
Zwei große, hübsche Mädchen kamen plappernd die Treppe herauf. Die eine hatte lange rote Haare, die andere war blond. Die waren jedenfalls keine Jüdinnen, das sah sie mit einem Blick. Sie blieben vor Emily stehen.
»Nanu, ich glaube, wir wohnen Tür an Tür«, sagte die Rothaarige. Sie hatte einen Südstaatenakzent. »Ich bin Annabel Jones.«
»Ich bin Emily Applebaum.«
»Ich bin Daphne Leeds«, sagte die schöne Blonde. Sie sprach, als hätte sie den Mund voll heißer Kartoffeln, und Emily wusste sogleich, dass sie zu den oberen zehntausend Gojim gehörte. »Hübscher Name ...«, fand Daphne. »Applebaum. Nie gehört. Was ist das für ein Name, ein deutscher?«
»Hm, ja, ich glaube«, sagte Emily. Wenn sie wüsste, dass er jüdisch ist, würde sie vielleicht nicht mehr mit mir sprechen, dachte sie. »Wohnt ihr zusammen in einem Zimmer?«
»Nein, Daphne wohnt zwei Türen weiter. Wir haben Einzelzimmer. Und du?«
»Ich auch.«
»Oh, du hast einen Aschenbecher dabei!«, sagte Annabel. »Wie schlau von dir. Den benutze ich gleich mit.« Sie angelte eine Zigarette aus einem Päckchen in ihrer Rocktasche und setzte sich neben Emily auf den Fußboden. »Hast du je im Leben so viele alberne Regeln gehört?«
Daphne setzte sich zu ihnen auf den Boden und blies einen perfekten Rauchring. »Ich fand, dass die in Chapin schon genug Regeln hatten«, sagte sie, »aber das hier ist wirklich lächerlich. Schließlich ist das ein College. So was Langweiliges.«
»Wir dürfen im Flur rauchen«, sagte Emily rasch.
»Ich weiß«, sagte Annabel. »Ich meine die ganzen Ausgangsregeln. Wenn wir wirklich was machen wollen, können wir das vor zehn Uhr genausogut machen wie nachher.« Sie lachte. »Unglaublich, wie scheinheilig die sind.«
»Auf diese Abseilprüfung könnte ich gern verzichten«, meinte Emily. »Glaubt ihr, wir müssen aus dem Fenster springen?«
»So schlimm kann das nicht sein«, sagte Daphne. »Das findet in der Turnhalle statt.«
»Was mich betrifft, ich finde alles schlimm, was in der Turnhalle stattfindet«, sagte Annabel.
Emily kicherte vor Erleichterung. »Oh, kannst du Turnen auch nicht ausstehen?«
»Ich find's widerlich. Ich reite ganz gern, aber eigentlich nur, weil ich die Trinkerei hinterher so toll finde.«
Emily sah Annabel erstaunt an. Sie war noch nie einer so kultivierten und welterfahrenen Person begegnet. Sie konnte sich Annabel gut im Reitanzug vorstellen, wie im Film, von zwei gutaussehenden großen Jünglingen zu einem Jagdfrühstück eskortiert. Ob sie Mint Juleps trank? Champagner?
(Continues…)
Excerpted from "Die Welt war so groß"
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