Hollywood Nachtstücke

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Overview

Erzählungen von dem Meister der untergründigen Spannung und des kalten, melancholischen Realismus – ein Muss für Ellroy-Fans
In seinen Erzählungen entlarvt Ellroy die Nachtseiten des glamourösen Hollywood. In einer Atmosphäre, durch die der Geist der fünfziger Jahre weht, zeichnet er Lebensläufe und Gestalten, die ihre Illusionen längst verloren haben und dennoch an ihrer Version des amerikanischen Traums festhalten.


Product Details

ISBN-13: 9783843721998
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 09/27/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 288
File size: 3 MB
Language: German

About the Author

About The Author
James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1979 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.
James Ellroy, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1981 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.
Thomas Mohr, geb. 1965 in Köln, übersetzt seit 1988 englischsprachige Literatur, u.a. Truman Capote, Emma Donoghue, James Ellroy, Olivia Laing und Mark Twain. Für sein übersetzerisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet.

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CHAPTER 1

Dick Continos Blues

Ich feiere in letzter Zeit ein mittelprächtiges Comeback.

Hier eine Italo-Festa, da ein bisschen Bargeklimper. Und ein grandioooser Auftritt bei einem Aids-Fernsehmarathon – mit meiner »Lady of Spain« fuhr ich zehn Mille an Spenden ein und kam obendrein in den Genuss einer Studentin, die Zuschaueranrufe entgegennahm, wenn sie mir in der Garderobe nicht gerade einen blies. Daddy-O ist auf Video erschienen, und Filmkritiker mit einem Faible für 50er-Jahre-Kitsch nerven mich mit Interviewwünschen.

Bei ihren Fragen schlägt mein Gedächtnis Purzelbäume. Es ist wieder 1958 – und ich bin ein Akkordeonspieler/Sänger, der für ein paar lumpige Kröten die Hauptrolle in einem B-Movie übernommen hat. Haben Sie »Rock Candy Baby« und »Angel Act« selbst geschrieben? Hatten Sie was mit Ihrer Partnerin, der Blondine aus der Mark-C.-BloomeReklame? Von wem stammten Ihre Kostüme, und wer war Ihr StuntDouble? Wie haben Sie den 51er Ford zum Schweben gebracht, mit den Bullen dicht auf den Fersen – die Einstellung wirke zwar echt, sei aber doch ziemlich schlampig in den Film geschnitten?

Ich versuche, ehrliche Antworten zu geben.

Ich verkaufe den schwebenden Wagen als Spezialeffekt.

In Wahrheit habe ich diese aufgemotzte/hochfrisierte/tiefergelegte Scheißkarre zum FLIEGEN gebracht. Und dazu gibt es eine Geschichte – mein liebevoller Abschied vom damaligen L.A.

1.

Ich ging baden.

Und zwar mit Pauken und Trompeten: schweißnasse Hände, leichter Tatterich. Meine Begleitband schien zu schwimmen – dabei war ich kurz vorm Ertrinken. Das GROSSE MUFFENSAUSEN packte mich bei den Eiern; Schlagzeilen in Riesenlettern: »Contino bringt Crescendo-Publikum zum Gähnen!«

»Contino vergeigt Sunset-Strip-Premiere!«

Vom »Bumble Boogie« zu »Ciriciribin« – eine AkkordeonBreitseite ins Auditorium. Ich knautschte den Balg aus Leibeskräften; mein Gehirn gab meinen Fingern einen falschen Befehl. Meine Finger gehorchten – ich hämmerte das Finale von »Tico Tico«. Eine ansteckende Krankheit: Meine Band stieg ein mit einem Thema aus der »Rhapsody in Blue«.

Ich stand da wie angewurzelt.

Das Saallicht ging an. Ich sah Leigh und Chrissy Staples, Nancy Ankrum, Kay Van Obst. Meine Frau, meine Freunde – und einen Haufen Premierentiger, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.

Hinter mir verröchelte die »Rhapsody in Blue«. Das GROSSE MUFFENSAUSEN packte mich bei den Eiern und DRÜCKTE ZU.

Ich versuchte es mit einem lockeren Spruch. »Ladies und Gentlemen, das war der ›Dissonance Jump‹, ein neues, experimentelles Zwölftonstück.«

Meine Freunde gickelten. Ein Trottel mit Legionärsfotze auf dem Kommisskopp grölte: »Drückeberger!«

Totenstille hallte durch den Saal. Ich musterte Joe Patriot: schnapsgerötete Visage, Legionärsmütze, Legionärsarmbinde. Meine Rechtfertigungsarie stand wie eine Eins: Ich war in Korea, bin ehrenvoll entlassen und von Harry S. Truman begnadigt worden.

Nein, besser: »Du kannst mich. Deine Mutter kann mich. Und dein Köter kann mich auch.«

Der Legionär erstarrte. Ich erstarrte. Leigh erstarrte zu einem tiefgefrorenen Lächeln und sah, wie (mindestens) zwei Wochen à zwei Mille sich in Rauch auflösten.

Der ganze Saal erstarrte.

Ich wurde mit Cocktailresten bombardiert: mit Rumfrüchten, Oliven, Eis. Von meinem Akkordeon tropften Maraschinokirschen – ich streifte es ab und verstaute es hinter einem Bühnenscheinwerfer.

Mein Gehirn gab meinen Fäusten einen falschen Befehl: Joe Patriot die Fresse polieren. Ich sprang von der Bühne und stürzte mich auf ihn. Er kippte mir seinen Drink ins Gesicht; reiner Alkohol verätzte mir die Augen, und auf einmal war ich blind. Ich spotzte, blinzelte und schlug wild um mich. Drei Schwinger gingen daneben; der vierte saß – der Treffer hatte eine solche Wucht, dass ich wie Wackelpudding zitterte. Meine Sehkraft kehrte zurück – und vor mir stand Mr America und spuckte Zähne.

Irrtum.

Joe Legionär war weg. An seiner Stelle krümmte sich, mit einer zentimetertiefen Wunde in der Wange, die mein über und über mit falschen Steinen besetzter Ehering verursacht hatte: Cisco Andrade, der aussichtsreichste Anwärter auf den Weltmeistertitel im Leichtgewicht.

Die County-Bullen stürmten den Saal und schwärmten aus. In ihrem Schlepptau: Deputy Dot Rothstein, ein gut 100 Kilo schweres Mannweib mit einer Schwäche für meine Freundin Chris Staples.

»Du dämlicher Vollidiot«, sagte Andrade.

Ich stand da wie angewurzelt.

Ich weinte Gin; meine linke Hand pochte. Plötzlich nahm der Hauptsaal des Crescendos surreale Züge an:

Hier Leigh, die den Cops die alte Platte von »Dick Contino, McCarthyOpfer« vorspielt. Da der Legionär, der meinem Saxofonisten ein Autogramm abluchst. Dot Rothstein hängt die Nase in den Wind – mein Drummer hat sich mit einem Joint hinter die Bühne verzogen. Chrissy macht einen großen Bogen um Big Dot – seit Chris für die Polente eine Lesbe geködert hat, ist Dotty höllisch spitz auf sie.

Schreie. Finger zeigten auf mich. Mickey Cohen mit seiner Bulldogge Mickey Cohen jr., die ihre Schnauze prompt in einer Schale Cocktailnüsse versenkte. Mickey sen. – der Heilige Vater der Bumslokale – steckte dem Einsatzleiter ein Bündel Scheine zu. Andrade drückte meine lädierte Hand – mir kamen die Tränen. »Du spielst bei der Geburtstagsfeier von meinem Sohn. Und zwar als Chucko, der Clown, verkleidet, er fliegt nämlich auf Clowns. Dann sind wir quitt. Kapiert?«

Ich nickte. Andrade ließ meine Hand los und betupfte seine Wunde. Mickey Cohen gab sich die Ehre und setzte noch eins drauf. »Dann könntest du doch eigentlich auch bei der Geburtstagsparty meiner Nichte auftreten, als Davy Crockett verkleidet, mit Waschbärmütze und allem Drum und Dran. Nicht wahr?«

Ich nickte. Die Polypen verließen einer nach dem anderen den Saal – ein Deputy zeigte mir den Stinkefinger und brummte: »Drückeberger!«

Mickey Cohen jr. schob mir die Schnauze zwischen die Beine. Ich versuchte ihn zu streicheln – das Mistvieh schnappte nach meinem Sack.

Leigh und Chris erwarteten mich im Googie's. Nancy Ankrum und Kay Van Obst kamen nach – wir quetschten uns zu viert an einen Tisch.

Leigh holte ihren Notizblock aus der Tasche. »Steve Katz war stinksauer. Er hat seinen Buchhalter angewiesen, deine Abendgage um die Hälfte zu kürzen.«

Meine Hand pochte noch immer – ich fummelte das Eis aus Chrissys Wasserglas. »Fünfzig Piepen?«

»Vierzig und ein paar Zerquetschte. Sie schenken dir keinen Penny.«

Dämonen lauerten: Leighs Geburtshelfer, der Repoman von Yeakel Olds. Ich sagte: »Das Baby können sie uns wohl schlecht wieder wegnehmen.«

»Nein, aber den Starfire 88, mit dessen Raten du drei Monate im Rückstand bist. Ach, Dick, musste es denn unbedingt ein Continental Kit mit ›Kustom-King‹-Sitzen und diesem grässlichen Akkordeon auf dem Kühler sein?«

Chrissy: »Typisch Italiener. Buddy Greco hat die gleiche Karre, da konnte Dick natürlich nicht nachstehen.«

Kay: »Mein Mann hat auch einen 88. Er sagt, die ›Kustom-King‹-Sitze sind so weich, dass er auf dem San Bernardino Freeway fast mal eingeschlafen wär.«

Nancy: »Chester Boudreau, mein absoluter Lieblings-Sexkiller, schwor auf Oldsmobiles. Er meinte, die rundliche Form des Oldsmobile hätte vor allem die Kinder magisch angezogen.«

In schönster Harmonie: mein Damentrio. Chrissy sang bei Buddy Greco und dealte mit Dexedrin; Nancy spielte in Spade Cooleys Frauencombo die Posaune und verkehrte – brieflich – mit der Hälfte aller Perversen in San Quentin. Kay: Landesvorsitzende des Dick-Contino-Fanklubs. Wir kennen uns seit meiner Army-Affäre: Kays Mann Pete leitete das FBI-Kommando, das mich damals wegen Fahnenflucht hochgenommen hat.

Unser Essen kam. Nancy schwärmte vom »Würger von West Hollywood« – irgendeinem Tier, das nur ein paar Ecken weiter, in einer Seitenstraße des Strip, zwei turtelnde Liebespärchen erledigt hatte. Chris bejammerte meine Crescendo-Schlappe und greinte, weil Buddys Mocambo-Engagement in vierzehn Tagen auslief.

Nancy fiel ihr ins Wort: Das Würgerfieber hatte sie gepackt. Sie schloss jetzt schon Wetten ab: Der Würger werde als Psychokiller Nr. 1 des Jahres 1958 in die Geschichte eingehen.

Leigh ließ mich in ihren Augen lesen:

Deine Freunde unterstützen deine Mätzchen. Ich nicht.

Dein männliches Imponiergehabe hat uns vier Mille gekostet. Wenn du mit Fäusten gegen deinen Ruf als FEIGLING kämpfst, machst du alles nur noch schlimmer.

Radioaktive Augen – ich entging ihnen via Small Talk. »Chrissy, hast du gemerkt, wie Dot Rothstein dich angegafft hat?«

Chris würgte einen Bissen Reuben-Sandwich hinunter. »Ja, dabei ist die Barbara-Graham-Sache inzwischen fast fünf Jahre her.«

Bei dem Namen »Barbara Graham« spitzte Killer-Nan die Ohren. Ich erklärte: »Chrissy hat neun Monate mit Barbara Graham im Frauenknast gesessen.«

Nancy, atemlos: »Und?«

»Und hatte zufällig die Zelle neben ihr.«

»Und?«

Chris fuhr dazwischen. »Hört gefälligst auf, mich wie Luft zu behandeln.«

Nancy: »Und?«

»Und ich hab neun Monate wegen gefälschten Dilaudidrezepten gesessen. Dot war die Oberwachtel in unserem Block und hatte ein Auge auf mich geworfen, was, nebenbei gesagt, beweist, dass sie Geschmack hat. Barbara Graham und ihre Komplizen Santo und Perkins waren gerade wegen dem Mord an Mabel Monahan verhaftet worden. Barbara beteuerte immer wieder ihre Unschuld, und die Staatsanwaltschaft hatte Angst, dass die Geschworenen ihr glauben könnten. Dot hatte gehört, dass Barbara im Knast einen auf Lesbe machte, und verfiel auf eine glorreiche Idee: Ich sollte mich an Barbara ranschmeißen und im Gegenzug einen Teil meiner Strafe erlassen bekommen. Ich spielte mit, aber nur unter der Bedingung, dass ich ihr nicht an die Wäsche musste. Die Staatsanwaltschaft und ich wurden uns einig, aber Barbara verriet auch unter vier Augen kein Sterbenswörtchen über den Abend des 9. März 1953. Wir schrieben uns mehr oder weniger frivole Briefchen auf Papierservietten, die Dot ans Hush-Hush Magazine vertickte, wo sie ohne meinen Namen erschienen. Ich kam raus, Barbara wanderte in die Gaskammer, und Dot ist bis heute davon überzeugt, dass ich ein kesser Vater bin. Sie schickt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte. Habt ihr schon mal mit Lippenstift beschmierte Weihnachtskarten gekriegt – von einer Zwei-Zentner-Gewitterlesbe?«

Der ganze Tisch brüllte vor Lachen. Kay prustete mit vollem Mund – und bespuckte Leigh mit Mineralwasser. Ein Blitzlicht explodierte – vor mir stand Danny Getchell mit einem Kameraakrobaten von Hush-Hush.

Getchell ratterte Schlagzeilen herunter: »Ziehharmonika-Zauberer landet folgenschweren Treffer bei Crescendo-Keilerei.« »Angeschwärzt: Akkordeon-As läuft Amok.« »Quo vadis, Dick Contino? – Comeback-Pleite bei Nachtklub-Prügelei.«

Nancy ging telefonieren. Ich sagte: »Danny, auf diese Art von Reklame kann ich getrost verzichten.«

»Da bin ich anderer Meinung, Dick. Bob Mitchum hat sein kleines Marihuana-Malheur schließlich auch nicht geschadet, im Gegenteil. Ich glaube, die Leute sehen dich als einen charmanten, gut aussehenden Heißsporn, der wahrscheinlich – ich bitte um Verzeihung, die Damen – einen ellenlangen Hammer in der Hose hat.«

Ich lachte. Danny sagte: »Großes Indianerehrenwort. Im Ernst, Dick, und ich bitte nochmals um Verzeihung, die Damen, aber du wirkst wie jemand, der hin und wieder ganz gerne seinen strammen Knüppel aus dem Sack holt.«

Ich lachte. Leigh schickte ein stilles Gebet gen Himmel: Bitte bewahre meinen Mann vor diesem Skandalblatt-Hetzer.

Nancy flüsterte mir etwas ins Ohr. »Ich hab gerade mit Ella Mae Cooley gesprochen. Spade hat sie wieder mal vermöbelt ... und ... Dick ... du bist der Einzige, der ihn beruhigen kann.«

Ich fuhr raus zu Spade Cooleys Ranch. Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe; ich schaltete Hunter Hancocks Wunschkonzert ein. Die Googie's-Clique war mit ihrem Anruf durchgekommen: Dick Continos »Yours« ging über den Äther.

Der Regen wurde stärker; das Chromakkordeon auf dem Kühler behinderte die Sicht. Ich gab Gas und ließ meine Vergangenheit im Rhythmus der Musik Revue passieren.

Ende 47, Fresno: Ich ergatterte einen Auftritt in Horace Heidts Radio Show. Dem Nachwuchs eine Chance – Studiopublikum/Applausometer. Ich dachte, ich spiele »Lady of Spain«, verliere gegen irgendeine Mieze aus der Gegend, die sich heimlich von Heidt besteigen lässt, und gehe dann aufs College.

Ich gewann.

Backfische umschwärmten mich hinter der Bühne.

Einen Monat später wurde ich achtzehn. Ich gewann immer wieder – jeden Sonntagabend, Woche für Woche. Gegen Sänger, Komiker, einen Posaune spielenden Neger und einen blinden Vibrafonvirtuosen. Ich trampelte und hampelte, schritt und glitt, bog und zog, hob und schob, hieb und rieb, kniff und griff in die Tasten meiner Quetsche wie ein tanzwütiger Derwisch nach einem konzentrierten Cocktail aus Leim, Benzedrin und Mary Jane. Ich schwang den Steiß und pumpte Pianissimos; ich klimperte Kadenzen und hämmerte einen Hagelsturm von Harmonien, bis tausend jaulende Höllenhunde den lieben Gott um Gnade anwinselten – und ich auch Horace Heidts großes Finale gewann. Mit einem Mal war ich ein Star, tourte als Heidts Hauptattraktion quer durch die Staaten und kam solo ganz GROSS raus.

Ich spielte in GROSSEN Sälen. Ich machte Platten. Ich brach Mädchenherzen. Filmaufnahmen, Fanklubs, Hochglanzmagazine. Die Kritiker wollten wissen, wie ich es schaffte, das Akkordeon derart cool klingen zu lassen – ich sagte: Ich würze den Schmalz doch bloß mit einer Prise Sex. Sie fragten: Wo haben Sie eigentlich gelernt, sich so zu bewegen? – Ich log und sagte, ich hätte keine Ahnung.

In Wahrheit:

Hatte ich MUFFENSAUSEN.

Packt mich manchmal aus heiterem Himmel die nackte Angst. Musik und Bewegung sind Beschwörungen, mit deren Hilfe ich das Grauen im Zaum zu halten versuche.

1949, 1950 – berauschender Ruhm und mehr Glück als Verstand. Anfang 51: DAS GRAUEN kommt in Gestalt des Musterungsbescheids.

DAS GRAUEN: Schweißausbrüche Tag und Nacht, Erstickungsangst. Angst vor Verstümmelung, Erblindung, Krebs, Vivisektion durch konkurrierende Akkordeonspieler. Der große Flattermann rund um die Uhr; Nachtklubbesucher in Leichenhemden. Den Kopf voll Musik: Sirenen, Presslufthammer, Küchenmixer außer Rand und Band.

Ich ging in die Mayo-Klinik; drei Hirnklempner stempelten mich wehruntauglich. Die Einstellungsbehörde verlangte einen vierten Befund und überwies mich an den diensthabenden Psychiater – der stufte mich als voll tauglich ein.

Ich wurde eingezogen und nach Fort Ord abkommandiert. DAS GRAUEN: Schon in der Eingangsstelle kriegte ich einen Kasernenkoller. Mein Herz raste, Stromstöße durchzuckten meine Arme. Meine Füße wurden taub; meine Beine zitterten, und meine Hosen troffen vor Schweiß. Ich verdünnisierte mich und nahm den Bus nach Frisco. Unerlaubte Entfernung von der Truppe, landesweite Fahndung – meine Fahnenflucht sorgte für Schlagzeilen.

Mit der Bahn fuhr ich weiter nach L.A. und kroch bei meinen Eltern unter. Reporter klopften an die Tür – mein Dad schickte sie weg. Fernsehteams kampierten vor dem Haus. Ich ging zu einem Anwalt, kehrte den Showprofi raus und stellte mich.

Mein Anwalt versuchte zu handeln – der Staatsanwalt blieb stur. Die Hearst-Gazetten verabreichten mir meine tägliche Tracht Prügel: »Akkordeon-Primadonna kneift vor Ford-Ord-Premiere«, »Feigling«, »Verräter«, »Waschlappen«, »Hasenherz statt Herzensbrecher«. »Feigling«, »Feigling«, »Feigling«.

Sämtliche Auftritte in GROSSEN Sälen wurden abgesagt.

Ich wurde zum Prozess in San Francisco vorgeladen.

Angst:

Bei jedem Vogelzwitschern zuckte ich zusammen. Ein Zimmer wurde zum Sarg, sobald ich es betrat.

Ich kam vor Gericht. Mein Anwalt legte die Mayo-Befunde vor; ich erläuterte meine Angst im Zeugenstand. Was die Zeitungen nicht davon abhielt, weiter Stimmung gegen mich zu machen: Ich sei mir wohl zu fein, meinem Vaterland zu dienen? Meine Antwort wollte niemand hören: Dann nehmt mir doch das Scheißakkordeon weg.

Der Richter sprach mich schuldig und verurteilte mich zu sechs Monaten im Staatsgefängnis auf McNeil Island, Washington.

Ich brummte die Strafe ab. Um mir die Arschficker vom Hals zu halten, mimte ich das Sadistenschwein. Beim Knautschorgeln hatte ich mir regelrechte Muskelpakete antrainiert – ich ließ den Bizeps mächtig spielen. Mickey Cohen, der wegen Steuerhinterziehung einsaß, freundete sich mit mir an. Mein Tagesablauf: Hofgang, Hausarbeiten, Akkordeonimpromptus. Einerseits charmanter Showman, andererseits durchgeknallter Knacki – eine schizophrene Nummer, dank der ich meine Haftzeit unbelästigt überstand.

Entlassung – Januar 52. Schleichende/kriechende/lähmende Furcht: Was jetzt?

Winter 52 – ein gigantischer Pressezirkus. »Contino wieder frei« auf allen Titelseiten – Dick Contino, der knastgestählte Feigling.

Restangst; würden sie mich jetzt noch einziehen?

Winter 52 – keine Auftritte, weder in GROSSEN noch sonst irgendwelchen Sälen. Mein Einberufungsbefehl kam mit der Post – diesmal spielte ich mit.

(Continues…)


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