Alles auf Rot: Der 1. FC Union Berlin

Zusammen sind wir weniger allein. In den Sechzigern hat Horst Szymaniak, einer der letzten Fußballer aus dem Bergbaumilieu, zum jungen Franz Beckenbauer gesagt: »Nach uns kommen nur noch Spieler aus Kunststoff.« Das ist die Geschichte vom 1. FC Union Berlin, den Schlosserjungs aus Köpenick, die zwar längst kein Metall mehr verarbeiten, aber deshalb noch lange nicht aus Kunststoff sind. Bekannte Autoren und Union-Insider erzählen von einem der letzten Gallischen Dörfer im Profifußball, von unerschöpflicher Liebhaberei, eiserner Gemeinschaft und anderen vergessenen Tugenden. Ein Denkmal für alle Union-Fans und eine mitreißende Empfehlung an alle, es zu werden. »Union verkörpert für viele Fußballfans im Land eine andernorts längst verlorene Romantik.« Süddeutsche Zeitung. »Weil alle so viel besser gelaunt sind als im Kulturbetrieb, meinem eigentlichen Habitat, beschließe ich nach drei Metern Weg, mich auch hier zu integrieren, für heute also Union-Fan zu sein.« Ronja Von Rönne.

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Alles auf Rot: Der 1. FC Union Berlin

Zusammen sind wir weniger allein. In den Sechzigern hat Horst Szymaniak, einer der letzten Fußballer aus dem Bergbaumilieu, zum jungen Franz Beckenbauer gesagt: »Nach uns kommen nur noch Spieler aus Kunststoff.« Das ist die Geschichte vom 1. FC Union Berlin, den Schlosserjungs aus Köpenick, die zwar längst kein Metall mehr verarbeiten, aber deshalb noch lange nicht aus Kunststoff sind. Bekannte Autoren und Union-Insider erzählen von einem der letzten Gallischen Dörfer im Profifußball, von unerschöpflicher Liebhaberei, eiserner Gemeinschaft und anderen vergessenen Tugenden. Ein Denkmal für alle Union-Fans und eine mitreißende Empfehlung an alle, es zu werden. »Union verkörpert für viele Fußballfans im Land eine andernorts längst verlorene Romantik.« Süddeutsche Zeitung. »Weil alle so viel besser gelaunt sind als im Kulturbetrieb, meinem eigentlichen Habitat, beschließe ich nach drei Metern Weg, mich auch hier zu integrieren, für heute also Union-Fan zu sein.« Ronja Von Rönne.

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Zusammen sind wir weniger allein. In den Sechzigern hat Horst Szymaniak, einer der letzten Fußballer aus dem Bergbaumilieu, zum jungen Franz Beckenbauer gesagt: »Nach uns kommen nur noch Spieler aus Kunststoff.« Das ist die Geschichte vom 1. FC Union Berlin, den Schlosserjungs aus Köpenick, die zwar längst kein Metall mehr verarbeiten, aber deshalb noch lange nicht aus Kunststoff sind. Bekannte Autoren und Union-Insider erzählen von einem der letzten Gallischen Dörfer im Profifußball, von unerschöpflicher Liebhaberei, eiserner Gemeinschaft und anderen vergessenen Tugenden. Ein Denkmal für alle Union-Fans und eine mitreißende Empfehlung an alle, es zu werden. »Union verkörpert für viele Fußballfans im Land eine andernorts längst verlorene Romantik.« Süddeutsche Zeitung. »Weil alle so viel besser gelaunt sind als im Kulturbetrieb, meinem eigentlichen Habitat, beschließe ich nach drei Metern Weg, mich auch hier zu integrieren, für heute also Union-Fan zu sein.« Ronja Von Rönne.


Product Details

ISBN-13: 9783841214287
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 11/06/2017
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 240
File size: 15 MB
Note: This product may take a few minutes to download.
Language: German

About the Author

1973 in Lüneburg geboren, war Jan Böttcher zunächst Songtexter und Sänger der Berliner Band „Herr Nilsson“. Seit 2003 hat er fünf Romane veröffentlicht. Mit „Nachglühen“ gewann er den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Jan Böttcher lebt in Berlin.

Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane "Das Kaff" und „Am Anfang war der Krieg zuende“ lieferbar.

Mehr Informationen zum Autor unter www.janboettcher.com.

Frank Willmann, geboren 1963 in Weimar. 1984 Ausreise nach Westberlin. Schriftsteller, Publizist. Coach der Autorennationalmannschaft. Zuletzt erschienen: „Mauerkrieger“ (2013) und „Kassiber aus der Gummizelle – Geschichten vom
Fußball“ (2015). Herausgeber der Reihe „Fußballfibel – Bibliothek des Deutschen Fußballs“. Frank Willmann lebt in Berlin.

Marcus Gruber, geboren 1985 in Sachsen. Lebt und arbeitet als Illustrator und Dozent in Berlin.

Mehr Informationen zum Illustrator unter www.marcus-gruber.com


1973 in Lüneburg geboren, war Jan Böttcher zunächst Songtexter und Sänger der Berliner Band „Herr Nilsson“. Seit 2003 hat er fünf Romane veröffentlicht. Mit „Nachglühen“ gewann er den Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Jan Böttcher lebt in Berlin. Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane "Das Kaff" und „Am Anfang war der Krieg zuende“ lieferbar. Mehr Informationen zum Autor unter www.janboettcher.com.
Frank Willmann, geboren 1963 in Weimar. 1984 Ausreise nach Westberlin. Schriftsteller, Publizist. Coach der Autorennationalmannschaft. Zuletzt erschienen: „Mauerkrieger“ (2013) und „Kassiber aus der Gummizelle – Geschichten vom Fußball“ (2015). Herausgeber der Reihe „Fußballfibel – Bibliothek des Deutschen Fußballs“. Frank Willmann lebt in Berlin.
Marcus Gruber, geboren 1985 in Sachsen. Lebt und arbeitet als Illustrator und Dozent in Berlin. Mehr Informationen zum Illustrator unter www.marcus-gruber.com

Read an Excerpt

CHAPTER 1

JAN BÖTTCHER

ANSTOSS

1

Ein kalter Februarmorgen 2017, ich rolle mit der S3 vom Berliner Ostkreuz in Richtung Köpenick. Mit der Straßenbahn geht es in den alten Ortsteil, zwischen den Wassern von Dahme, Spree und Müggelspree liegt die Freiheit 15, eine Restauration, in der wir uns mit den Verantwortlichen des Vereins treffen. Mit am Tisch sitzt auch Jochen Lesching, der seine Union-Karriere als Stadionheftmacher begann, später den Wirtschaftsrat mitgegründet hat und heute als Vorstandsvorsitzender der Union-Stiftung tätig ist. Wir haben uns bei Kaffee und Schrippen schon eine Weile angeregt über die Zukunft dieses Buches unterhalten, als Lesching sagt:

»Wir haben mittlerweile das Selbstverständnis: Union ist der Gesellschaft ein Stück voraus. Und womöglich können wir ihr etwas zurückgeben, was sie im Karussell des Kommerzes nicht mehr abbildet.«

Das Statement ließ mich seitdem nicht mehr los. Wohl auch, weil es sich mit einem Verdacht deckte, der mich nach einem halben Jahr persönlicher Annäherung an diesen Verein bereits beschlichen hatte. Etwas war anders im Staate Köpenick. Etwas wurde Eisern gerufen, war aber aus menschlicher Wärme gemacht. Etwas war laut, kam aber erstaunlicherweise gar nicht aus den Lautsprecherboxen. Etwas war offen und im Prozess – unbefestigt also wie der Waldweg hinter dem Stadion.

2

Die Verwirrung hatte gleich bei meinem ersten Stadionbesuch im Sommer begonnen. Ein Montagabend, Dynamo Dresden war zu Gast, mein Mitherausgeber sprach von einem Hochsicherheitsspiel, ich war sehr aufgeregt und freute mich auf das Ostduell. Aber dann trat der Presse- und Stadionsprecher Christian Arbeit auf den Rasen und verabschiedete die langjährige Vereinsbeauftragte für Menschen mit Handicap, Janine Jänicke, die mit 47 Jahren bei einem Motorradunfall tragisch ums Leben gekommen war. Ihr Bild auf der Leinwand, seine Trauerrede, statt Schweigeminute frenetischer Applaus, und selbst neben uns flossen die Tränen – auf der Pressetribüne.

Was ist ein Verein? Ein Verein ist einer, der die Menschen in sich aufnimmt, der niemanden alleine lässt, schrieb ich noch während des Fussballspiels angerührt in mein Stadionheft. Woraus zieht er seine Identität und seine Energie im Alltag? Er will ja eine Familie sein, also muss er Rückschläge hinnehmen und weitermachen, er muss die Toten in sich aufnehmen wie die Lebenden, die Siege wie die Niederlagen. Union lag derweil gegen Dynamo zurück, drehte das Spiel und führte, spielte schließlich unentschieden. Es war an diesem Abend nicht wichtig, ich war völlig durcheinander. Am Biergarten auf der Waldseite kondolierten Hunderte von Fans. Später übernahm der beim Unfall schwerverletzte Ehemann der Verstorbenen ihren Posten im Verein.

Immer wieder während der Saison sagte ich mir: Du fährst da jetzt als schreibender Fußballer hin. Weil du es liebst, wenn die Mannschaft gewinnt. Weil sie diese Erfolgsserie gestartet hat und vor Selbstbewusstsein strotzt. Weil sie derzeit so gut presst, dass der Gegner den zweiten Ball schon verloren gibt, wenn der erste noch gar nicht gespielt ist. Es macht richtig Spaß, dieser Mannschaft zuzusehen. Jetzt ist sie sogar Tabellenführer, ist das zu fassen!?

Das alles redete ich mir ein, obwohl ich längst verstanden hatte, dass mir jeder Spieltag weit mehr zu bieten hatte als neunzig Minuten Fußball. Ich hätte schon taub und blind sein müssen, um die Anfahrt durch Berlin nicht bereits zum Erlebnis 1. FC Union zu zählen. Egal wie früh ich auch aufbrach, überall in der S-Bahn unterhielten sich Fangrüppchen über ihre kleine Familie, über Arbeit, Urlaubspläne und Auswärtsspiele. Redselige Menschen, mit denen jeder schnell ins Gespräch fand. Als sich der Berliner Zugführer nach einer Minute Stillstand am S-Bahnhof Karlshorst zu einem »Ma die Tür freimachen, sonst jeht's nisch weita« aufraffte, klang seine Stoffeligkeit wie aus einer fernen Welt. Und mir ging Leschings Satz wieder durch den Kopf: Vielleicht war diese rot-weiße Menge gar nicht der Querschnitt der Berliner Gesellschaft, sondern sie lebte in ihrer Verbundenheit zu Union ein glücklicheres Dasein.

3

In Zeiten des drohenden Konkurses oder Lizenzentzugs haben Widerständigkeit und Kampfbereitschaft den 1. FC Union Berlin am Leben erhalten, fast immer von innen, auch durch Initiativen aus der Fanszene. Die jüngste Vereinsgeschichte hat aber auch Aktionen zu bieten, die weit über die Stadt Berlin hinaus für Furore sorgten und die heute jeder Fußballinteressierte mit dem 1. FC Union verbindet: der von den Fans und Mitgliedern in Eigenregie durchgeführte Stadionausbau der Jahre 2008–2009, und das berühmte Weihnachtssingen, das alljährlich aus 20 000 Kehlen im Stadion An der Alten Försterei zu hören ist. Beide haben ihren festen Platz auch in »Alles auf Rot«.

Als Herausgeber hatten wir von Beginn an das Interesse, verschiedene Autorentypen zusammenführen: solche, die das Vereinsleben schon von innen kennen und dem Leser deshalb kenntnisreiche Einblicke ins Köpenicker Herz gewähren. Und eine mindestens ebenso große Menge unvoreingenommener Literaturprofis, die nicht sofort vor den Mythen, Legenden und auch Klischees eines Sportvereins erstarren, sondern mit ihm ins Einsgegen-Eins-Duell gehen würden.

So wuchs für »Alles auf Rot« ein hochkarätiger dreißigköpfiger Kader zusammen, in Ost und West sozialisierte Autorinnen und Autoren, geboren zwischen den Jahren 1959 und 1992, vielfach für ihre literarischen und journalistischen Arbeiten ausgezeichnet. Sie alle beweisen mit ihren Texten, wie viele betrachtens- und lebenswerte Facetten der Fußballkosmos mittlerweile hat. Bestsellerautoren wie Benedict Wells und Thomas Brussig steuern ihre Live-Spielberichte bei. Annett Gröschner ist der Frage auf den Grund gegangen, inwieweit die Arbeiterkultur heute noch den 1. FC Union prägt. Der Filmregisseur Sönke Wortmann erzählt davon, was seinen alten Ruhrpottfußball mit der Alten Försterei in Köpenick verbindet. Starautorin Ronja von Rönne taucht mit Union-Schal im Fanblock der Gäste auf, kann aber das 0 : 1 gegen Aue damit nicht verhindern. Daniel Roßbach blickt zurück auf die Spieltaktik in der abgelaufenen Saison 2016/17, während Florian Werner sich den wichtigsten Liedern widmet, die bei einem Union-Heimspiel erklingen.

Was uns im Arbeitsprozess auffiel und immer glücklicher machte: Im Grunde kann nur ein Sammelband, eine Anthologie – mit ihren eigensinnigen Stimmen und Perspektiven – dem Gegenstand 1. FC Union Berlin gerecht werden. So spiegelt dieses Buch im Kleinen jene »Kraft der Vielen«, die der Verein selbst propagiert, indem er von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung seiner Anhänger nicht nur redet wie ein hohles Wahlplakat, sondern sie lebt, befördert und nutzt.

Demgemäß hat der 1. FC Union Berlin im Sommer 2017 seine Stadionausbaupläne präsentiert. Die Alte Försterei wird größer. Von knapp 15 000 neuen Plätzen werden 10 300 im Stehplatzbereich sein, nur 4700 Sitzplätze – und es entstehen ganze 414 VIP-Plätze! Für einen Verein, der die Ambition besitzt, in die Bundesliga aufzusteigen und der dieses Ziel gerade ganz knapp verfehlt hat, sind diese Zahlen nicht mehr nur außergewöhnlich bodenständig. Sie sind eine Ansage an den überkommerzialisierten Ballsport von der Premier League bis ins ferne China.

Der Stadionausbau wirft auch ein Licht auf das Statement Jochen Leschings, das ich anfangs zitiert habe. Ist Union der Gesellschaft voraus, indem es die Bedürfnisse seiner Fans in wichtigen Entscheidungen ernst nimmt? Und haben Politik und Wirtschaft – diese Frage stellt sich überparteilich – in diesen Jahren nicht genau zu analysieren, wo sie die Menschen durch Entmündigung und Unterforderung verlieren? In Köpenick wissen ein paar Menschen, woraus ihr Verein gemacht ist – und sie wissen auch, worauf sie gut verzichten können. Christian Arbeit zählt auf: »Du kommst nicht in die Alte Försterei, um in der Halbzeitpause Cheerleader zu sehen oder irgendeinen Preis abzuräumen. Und du willst auch keinen Jubel vom Tonband und dass dir jeder Ballkontakt von einem Sponsor präsentiert wird. Du kommst hierher, weil Union deine Mannschaft ist. Hinter diesem Austausch, diesem Erlebnis hat alles andere zurückzustehen.«

4

Möge es so bleiben.

5

»Alles auf Rot« versammelt neben situativen Texten auch solche, die sich der Besonderheit dieses Sportvereins historisch nähern. Mit Jochen Lesching habe ich auch über die zahlreichen Krisen des Vereins gesprochen, und als ich ihn fragte, ob er einen besonderen Moment aus der Zeit des puren Überlebenskampfes abgespeichert hat, zögerte er nicht lang. Den Februartag 1998, erzählte er, als 2000 Union-Fans vor dem Stadion von Tennis Borussia Berlin standen, sangen, feierten – um dem Regionalliga-Rivalen das Eintrittsgeld vorzuenthalten. Die so eingesparten 10 000 DM übergaben die Unioner, als sie in der Halbzeit gratis das Stadion betreten durften, ihrem eigenen Präsidenten. »Da schoss es mir durch den Kopf: Jetzt hast du zu Ostzeiten so lange über den sozialen Gebrauch von Rockmusik geforscht«, sagt Lesching, »aber dass es diese besondere Energie auch in einem ganz anderen Umfeld gibt, beim Fußball, Wahnsinn. Das war der pure Rock 'n' Roll.«

Die Krise will niemand zurückhaben. Sie hilft aber, um sich an den eigenen Funken zu erinnern. Wann einen der Verein gepackt hat und nicht mehr losließ. Und jede Krise wird mitgeholfen haben, um jene wichtige Union-Erkenntnis für die Gegenwart zu formulieren: Bleibe roh! Bleibe direkt! Brimborium ist das, was einem Fan im Weg steht, der selbst anpacken will.

Deshalb jetzt keine großen Worte mehr, auch wenn es um Literatur geht. Gerade deshalb nicht. Keine Berührungsängste. Aufschlagen, lesen, Fan sein, Kritik üben, drüber reden. Alles auf Rot. Rock 'n' Roll.

CHAPTER 2

PHILIPP REINARTZ

DIE SCHWEIGENDE MEHRHEIT

Gestern noch hatte Karl einen Nachnamen. Da war er in China, Siemens, Gasturbinen. Jetzt sitzt er im Sandmann, zehn Minuten neben der Alten Försterei, und heißt nur noch Jung-Karl.

Der Grund dafür sitzt auch am Tisch, ist 44 Jahre älter, ehemaliger Kraftfahrer und zufälligerweise Träger des gleichen Vornamens. Daher, natürlich, Alt-Karl.

Und zwischen den beiden, räumlich wie zeitlich: Jens. Mittel-Jens sozusagen, aber das ist nicht nötig, es gibt nur einen Jens, und das ist er. Er sieht ein bisschen aus, als habe sich Axel Prahl für eine Outlaw-Rolle die Haare wachsen lassen. Kumpeltyp, olivgrüne Jacke, darunter roter Fleecepulli, erst dann, ganz tief drinnen also, UnionTrikot.

Drei Generationen seien das hier inzwischen, fängt Jens an. In den Siebzigern, während seiner Lehre, habe das begonnen, mit ihm und den älteren Kollegen, da waren es bereits zwei Generationen.

Alt-Karl nickt. Drahtiger Typ, er sieht aus wie der Wunschkandidat der Leute, die in Kleinanzeigen nach einem rüstigen Rentner als gute Seele für Haus und Hof suchen.

Und irgendwann, so Jens weiter, habe man eben die Kinder mitgenommen, die dritte Generation.

Jung-Karl nickt nicht, Jung-Karl unterbricht.

Eigentlich sind es ja schon vier inzwischen, Vattern.

Vattern sagt er. Ist Jung-Karl, ein blonder Schweighöferverschnitt, also tatsächlich Sohn von Jens, dem Outlaw-Prahl, als sei Schauspielerähnlichkeit vererbbar.

Stimmt, sagt Jens, erzählt von Enkel Paul, Jung-Karls dreijährigem Sohn. Mit Geburt Union-Mitglied.

Dann fasst Jens den Familienbegriff weiter, stellt Peter vor und Uwe, Steffen, Vincent, Mützen-Sören, die ganze Union-Familie. Er erzählt von früher, als er im Außenhandel war, Motoren verkaufte, und von heute, er arbeite inzwischen als rechtlicher Betreuer für Kranke und Alte. Aber dit is ejal, sagt Jens, und er sagt das oft, wie mit einem Punkt am Satzende schließt er damit seine Beiträge ab. Aber dit is ejal.

Vierzig Jahre Union-Fan, da hat er ja alles mitgemacht, da bringt ihn ja nichts mehr aus der Ruhe. Eine gefälschte Bankbürgschaft in den Neunzigern, UEFA-Cup, Rumtingeln uffe Dörfer. Was soll man da zur Auswärtsniederlage vom Wochenende sagen? Dit is ejal.

Obwohl sie natürlich im Stadion waren, in Hannover, alle drei.

Doch Auswärtsfahrten seien jetzt auch nicht mehr wie früher, sagt Jens. Die Karls nicken. Dabei denkt bei früher jeder an etwas anderes.

Jens denkt an die Achtziger, als es Ausschreitungen gab und er mit dem Fanbetreuer studierte, der Ordner für die Auswärtstouren suchte. Freifahrt, Erbsensuppe, 30 Mark, dafür band sich Jens gern die Binde um.

Alt-Karl denkt an Sachsen, wo sie nie erwünscht waren, wo es Hallo, die Mücken am Bahnhof hieß, er in Sippenhaft genommen wurde, Spiele verpasste und die Polizei bei der Leibesvisitation statt Waffen oder Böllern nur zwei Schnapsgläser fand.

Und Jung-Karl denkt an die Jugend, als man sich von den Alten unabhängig machen, mit den richtigen Fans unterwegs sein wollte, denen von der Waldseite. Bis man in Bussen saß, die vor Tankstellen fuhren, um diese leerzuklauen.

Das war nicht so mein Ding, meint Jung-Karl.

Also ständen sie nicht auf der Waldseite?

Nee, sagt Jens, die singen ja die ganze Zeit. Wir stehen auf der Rentnertribüne. Ein paar Yuppies seien da seit Neuestem. Ansonsten die, die sich auf das Spiel konzentrieren wollten, nicht auf das Bier.

Eine Viertelstunde später verstehe ich, was Jens meint.

Es gibt diese Typen, die nur im Stadion richtig explodieren, sonst in sich gekehrt, schweigsam, plötzlich neunzig Minuten Stimmbandspannung.

Jens ist das Gegenteil.

Denn so viel er bisher erzählt hat, von Union und Familie, was ja irgendwo das Gleiche ist, so ruhig ist er ab dem Moment, in dem er seinen Platz in Sektor 3 gefunden hat.

Das mit der Rentnertribüne ist nicht ganz falsch. Schräg gegenüber, auf der Waldseite, schwenken sie Fahnen und schauen auf eine Werbebande für Heidelberger Betonelemente. Hier verteilt Alt-Karl Eisbonbons, gegen die Bierfahne, und in Sichtweite wirbt Zweitausendeins für Bücher, Musik, Filme.

Drüben wird jeder Spieler schon beim Verlesen der Aufstellung zum Fußballgott geschrien. Drüben brüllt der Chor der harten Jungs sein Eisern!, erwartet von uns hier die Antwort. Zwei Generationen verziehen keine Miene, nur Jung-Karl macht mit: Union! Dann noch mal, Eisern!, Union!, Eisern! – JungKarl ist schon nicht mehr dabei – Union! Solange wie die Waldseite es will. Sie fängt irgendwann an und sie hört irgendwann wieder auf. Wir hier sind höchstens Echo. Jens starrt auf den Rasen und verzieht keine Miene.

Und als ich dann auch noch seinen Polyesterschal über dem mehrlagig versteckten Uniontrikot sehe, scheint es klar zu sein. Wir hier, wir sind keine richtigen Fans, die richtigen Fans stehen drüben und reimen Union auf Religion.

Wir sind eine Tribüne, die so ruhig ist, dass man manchen Übermütigen losgrölen hört, Scheiß FC Aue, wir singen scheiß FC Aue, auch wenn es nicht stimmt, er singt alleine, meistens eine Runde, manchmal, hoffend auf die Wirkung des abschließenden Und alle!, eine zweite, vergeblich.

Und das kommt mir dann so bekannt vor, aus allen Stadien, dass ich es langsam begreife.

Wir hier sind die Leute, die die Stadien füllen.

Wir sind nicht der kleine, springende, grölende Haufen, manchmal oberkörper-, manchmal oberstübchenfrei.

Wir machen aus der Wand ein Stadion.

Alt-Karl, Jens und Jung-Karl.

Wir hier sind die Fans.

Wir steigen auf und wir steigen ab. Aber dit is ejal. Denn wir lieben unser Team.

Wir fordern Köpfchen von unserem Trainer, nicht seinen Kopf.

Für uns ist der Schiedsrichter kein Hurensohn, wir wissen höchstens mal, wo sein Auto stand.

Und wir mögen Bier zum Fußball, nicht Fußball zum Bier.

Wir besingen den Tag, so wunderschön wie heute.

Aber nur, wenn er es wirklich ist.

Für uns gehört auch der Reinrufer von vier Reihen hinter uns dazu, der Steh uff brüllt oder Bewegung, Mann.

Aber keine Affenlaute.

Und hat sich ein Auswärtsfan in unseren Block verirrt, kriegt er natürlich! Aber 'nen Spruch, keine Dresche.

Und nur weil andere Leute in anderen Blöcken das anders sehen, haben wir den Polyesterschal dabei. Denn der richtige wurde geklaut, auswärts, von denen, die Jung-Karl in den Bauch getreten haben. Der hier, sagt Jens und schielt auf seinen Schal, lässt sich zur Not besser verstecken.

Am Ende soll es heute nicht reichen. Null zu eins gegen Aue.

Wenn das mit dem Aufstieg nicht klappt, resümiert Jens auf dem Rückweg in den Sandmann, dann eben nicht. Und wenn doch, wenn die anderen zu blöd sind, dann sollen die Jungs das eine Jahr genießen, ohne Neuzugänge, Urlaub in der ersten Liga.

Später, ein paar Bier später, verabschiedet sich Jens von der Union-Familie.

(Continues…)



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