Eure Heimat ist unser Albtraum: Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa, Margarete Stokowski uvm.

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Overview

»Das sind die Stimmen, die wir hören müssen. Damit es in diesem Land nicht noch finsterer wird.« Margarete Stokowski
Wie fühlt es sich an, tagtäglich als "Bedrohung" wahrgenommen zu werden? Wie viel Vertrauen besteht nach dem NSU-Skandal noch in die Sicherheitsbehörden? Was bedeutet es, sich bei jeder Krise im Namen des gesamten Heimatlandes oder der Religionszugehörigkeit der Eltern rechtfertigen zu müssen? Und wie wirkt sich Rassismus auf die Sexualität aus?
Dieses Buch ist ein Manifest gegen Heimat – einem völkisch verklärten Konzept, gegen dessen Normalisierung sich 13 Autor_innen wehren. Zum einjährigen Bestehen des sogenannten "Heimatministeriums" sammeln Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah schonungslose Perspektiven von Denker_innen, die Rassismus und Antisemitismus erfahren. In persönlichen Essays geben sie Einblick in ihren Alltag und halten Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als »anders« markiert, kaum schützt oder wertschätzt.
 

Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Olga Grjasnowa uvm.


Product Details

ISBN-13: 9783843720427
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 02/22/2019
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 182
Sales rank: 1,047,441
File size: 1 MB
Language: German

About the Author

Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman Ellbogen, für den sie mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Als freie Autorin schreibt sie daneben u. a. für das Missy Magazine. 2019 ist sie Stipendiatin der Villa Aurora in Los Angeles. Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel, ist freie_r Redakteur_in beim Missy Magazine und bei der taz, schreibt für deutsch-sprachige Medien, u.a. die Kolumne "Habibitus" für die taz sowie für Spex, an.schläge und für das Literaturjournal politisch schreiben. Yaghoobifarahs Essay Ich war auf der Fusion, und alles, was ich bekam, war ein blutiges Herz erschien 2018.

Fatma Aydemir, 1986 in Karlsruhe geboren, war Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. 2017 erschien ihr Debütroman Ellbogen, für den sie mit dem Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr zweiter Roman Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis und dem Preis der LiteraTour Nord 2023 ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 


Hengameh Yaghoobifarah lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2014 ist Hengameh Yaghoobifarah Redaktionsmitglied beim Missy Magazine. Zwischen 2016 und 2022 erschien die Kolumne »Habibitus« in der taz. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 den viel beachteten Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum herausgegeben. 2021 erschien der erfolgreiche Debütroman Ministerium der Träume.

 

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand im März 2018, zeitgleich mit der Taufe des sogenannten »Heimatministeriums«. So lautete neuerdings die Kurzbezeichnung des einstigen Innenministeriums, das im Zuge der neuen Regierungsbildung in »Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat« umbenannt worden war. Dass an die Spitze dieser neuen Institution ein Politiker berufen wurde, der sich zuallererst für mehr Abschiebungen, eine restriktivere Migrationspolitik und gegen »den Islam« als Teil der deutschen Gesellschaft aussprach, ließ die politischen Beweggründe hinter dieser Umbenennung erkennen.

»Heimat« hat in Deutschland nie einen realen Ort, sondern schon immer die Sehnsucht nach einem bestimmten Ideal beschrieben: einer homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben, Frauen sich vor allem ums Kinderkriegen kümmern und andere Lebensrealitäten schlicht nicht vorkommen. In den vergangenen Jahrzehnten diente das Wort Rechtspopulist_innen und extremist_innen als Kampfbegriff, um all jenen Menschen, die diesem Ideal nicht entsprachen, ihre Existenzberechtigung abzusprechen. So bezeichnet sich die rechtsextremeNPD als »soziale Heimatpartei«. Und alle drei Mitglieder des NSU-Kerntrios gehörten einer militanten Neonazi-Organisation an, die sich »Thüringer Heimatschutz« nannte, bevor sie durchs Land zogen, um (mindestens) neun Migranten und eine Polizistin zu ermorden. »Heimat« ist auch ein integraler Teil der faschistischen NS-Ideologie und somit kaum ohne Zusammenhang zur Shoah denkbar. Und nun wird ein Ministerium danach benannt. Das Wort wird somit normalisiert. Ohne Diskussion. Ohne jegliche Begründung. Einfach so.

Nicht umsonst ist diese »Heimat« ein Albtraum vor allem für marginalisierte Gruppen, aber nicht nur. Deshalb sind zwei Worte im Buchtitel »Eure Heimat ist unser Albtraum« im selben Lila gefärbt wie der Hintergrund: Denn nicht die Herausgeber_innen und Autor_innen dieses Buchs entscheiden, wo das »Wir« endet und das »Ihr« beginnt. Sondern jede_r Leser_in bestimmt für sich selbst: Will ich in einer Gesellschaft leben, die sich an völkischen Idealen sowie rassistischen, antisemitischen, sexistischen, heteronormativen und transfeindlichen Strukturen orientiert? Oder möchte ich Teil einer Gesellschaft sein, in der jedes Individuum, ob Schwarz und / oder jüdisch und / oder muslimisch und / oder Frau und / oder queer und / oder nicht-binär und / oder arm und / oder mit Behinderung gleichberechtigt ist?

Keine Angst, dieses Buch wird sich nicht mit einem von alten weißen Männern geleiteten Ministerium beschäftigen. Stattdessen haben wir 12herausragende deutschsprachige Autor_innen gebeten, mit uns gemeinsam über oft übersehene, aber sehr existenzielle Aspekte marginalisierter Lebensrealitäten in Deutschland zu schreiben. Herausgekommen sind dabei mal witzige, mal bedrückende, vor allem aber kluge und sehr ehrliche Texte, die hilfreich sein können bei der Frage: Wie halte ich es mit dieser »Heimat«?

Einige Anmerkungen zur Sprache im Buch sind uns wichtig:

Wir verzichten auf das generische Maskulinum (die Leser) und gendern mit dem sogenannten Gap, einer mit Unterstrich gefüllten Lücke (die Leser_innen). Diese Schreibweise bezieht nicht-binäre Personen ein und entzieht sich damit dem hegemonialen Zweigeschlechtersystem.

Außerdem schreiben wir Schwarz als politische Selbstbezeichnung Schwarzer Menschen groß, die soziale Positionierung weiß hingegen klein. Mit Bezug auf Noah Sow, Autorin von Deutschland Schwarz Weiß, weisen wir darauf hin, dass es sich bei diesen beiden Begriffen weder um Farben noch um »Biologisches« handelt, sondern um politische Realitäten, und dass es leider nicht möglich ist, Rassismus zu überwinden, ohne seine Konstrukte »Schwarze« und »Weiße« zu benennen.

Die aus den USA stammende Formulierung People of Color – im Singular Person of Color, oder kurz: PoC – markiert den gemeinsamen Erfahrungshorizont von Menschen, die nicht weiß sind, in einer weißen Mehrheitsgesellschaft. Es handelt sich hierbei um eine politische Selbstbezeichnung. Beim »Color« geht es weder (ausschließlich) um Hautfarbe, noch kann der kolonialrassistische Begriff »farbig« als Synonym verwendet werden.

Schließlich wollen wir all jenen danken, ohne deren Engagement, Wissen und Inspiration dieses Buch nicht hätte entstehen können. Allen Autor_innen, deren Namen in diesem Buch an verschiedenen Stellen auftauchen, aber auch den unzähligen nicht namentlich genannten Akademiker_innen, Aktivist_innen, Care-Arbeiter_innen, Denker_innen, Künstler_innen, die seit Generationen für eine gleichberechtigte Gesellschaft kämpfen und denen wir es zu verdanken haben, dass wir 2019 diesen Essayband veröffentlichen können.

Fatma Aydemir & Hengameh Yaghoobifarah, Berlin im Januar 2019

CHAPTER 2

Sichtbar

von Sasha Marianna Salzmann

Ich werde nie wissen, was es heißt, unsichtbar zu sein. Ich werde nie wissen, wie es ist, unvorsichtig sein zu können beim Küssen im Park, einfach draufloszuknutschen. Was es heißt, durch die Straßen zu streifen und nicht damit rechnen zu müssen, dass jemand im Vorbeigehen meine Haare zu berühren versucht. Wie es ist, sich nicht ständig in Selbstgesprächen zu beschwichtigen, wenn man mehrmals am Tag gefragt wird, ob man Deutsch verstehe. Mich in der Menge aufzulösen, ist keine Option für mich. Ich gehöre gleich mehreren Minderheiten an; das kaschieren zu wollen, birgt für mich größere Gefahren, als meine Positionen zu benennen.

Your silence will not protect you, heißt ein Essayband von Audre Lorde, in dem sie gleich in mehreren Texten die destruktive Kraft von (selbst) auferlegtem Schweigen herausarbeitet: Der einzige Weg, der verhindert, dass das, was man ist, gegen einen verwendet wird, sei das Sprechen über sich, bevor es andere tun. Andernfalls blieben die Angriffe und Beurteilungen der anderen in den Grauzonen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, und man wird danach behaupten können, man habe von nichts gewusst.

Ich denke an die Jüdinnen und Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts so damit beschäftigt waren, sich zu assimilieren, dass Hitler sie daran erinnern musste, dass sie nie dazugehören würden und nie erwünscht wären. Diese Menschen wurden jüdisch durch Diskriminierung, durch Ausgrenzung, durch ihren Tod. Viele von ihnen meinten, wenn sie sich als Teil der christlich-deutschen Gesellschaft verstünden, dann seien sie es auch. Einige glaubten der antisemitischen Propaganda und schämten sich ihrer selbst: »Wer sich assimilieren konnte oder wollte, für den war alles, was an den Moschus des Judentums erinnerte, eine Art hässlicher Atavismus, wie ein Fischschwanz, den man noch hinter sich herzieht, nachdem man den Schritt aufs Festland geschafft hat«, schreibt Maria Stepanova in ihrem Roman Nach dem Gedächtnis. Das Ergebnis ist bekannt. Assimilation führt ins Verderben. Warum versuchen wir also dazuzugehören? Welche Versprechen birgt es, so zu sein wie alle, das »Normalsein«? Und kann man nach den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts wirklich glauben, dass man als Minorität in einer Gemeinschaft geschützt wird, wenn man leise ist und sich so unauffällig wie möglich verhält?

Zumindest im jüdischen Kontext bedeutet das Nicht-Auffallen und Nicht-Benennen, dass man nicht vorkommt. Wenn ich meine Kultur nicht feiere, existiert sie nicht, versuchte ich der Frau, die sich mir als Christin vorstellte, zu erklären, als sie mich nach einer Lesung darauf hinwies, dass für sie die Art, wie ich meinen Davidstern gut sichtbar über dem Shirt trage, Exhibitionismus sei.

An diese Frau musste ich denken, als ich in dem Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes las, dass 43,8 Prozent der deutschen Bevölkerung voll und ganz oder mindestens tendenziell dem Satz zustimmen: »Homosexuelle sollten aufhören, so einen Wirbel um ihre Sexualität zu machen.« Für die meisten dieser Gruppe ist ihre eigene Sexualität als Norm markiert; sie fordern mein Schweigen, meine Unauffälligkeit und damit mein Verschwinden mit dem Verweis darauf, dass man über Homosexualität nicht mehr sprechen müsse, denn Homos seien längst überall angekommen. Selbst hochrangige Politiker_innen seien offen homosexuell und stünden mit ihrem Lebensstil für die Toleranz der westlichen, christlichen Gesellschaft. Sieht man sich aber die Geschichte von Queerness genauer an, wird deutlich, wie ungesichert und immer aufs Neue umkämpft dieses Feld ist: Das in Deutschland 1872 eingeführte und von den Nazis 1935 verschärfte Homosexuellengesetz unter dem § 175, das Männer für gleichgeschlechtliche Akte mit Zuchthaus bestrafte, wurde erst 1994 abgeschafft. Die Rehabilitierung aller Verurteilten und ihrer Sexualpartner folgte erst 2017, viele der Betroffenen waren längst tot.

Die sogenannte Ehe für alle wurde in Deutschland zwar 2017 eingeführt, wird aber nach wie vor kontrovers diskutiert und bleibt umstritten.

Erst 2018 nahm die Weltgesundheitsorganisation Transidentitäten von der Liste der Geisteskrankheiten. Trotzdem müssen diese Menschen zwei voneinander unabhängige psychiatrische Gutachten vorlegen, wenn sie eine Hormonbehandlung beginnen wollen. Das aktuell verabschiedete Gesetz zur dritten Geschlechtsoption, das neben »männlich« und »weiblich« auch den Eintrag »divers« vorsieht, zielt auf Intersexuelle, aber nicht auf Transidente und NichtBinäre. Ich selber, als nicht-binäre Person, bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass Menschen die Art, wie ich mich selbst wahrnehme, für eine psychische Störung halten.

Gleichzeitig stimmt es, dass Lesben- und Schwulenrechte mittlerweile eine relevante Spielkarte in politischen Machtkämpfen darstellen. Seinem Selbstverständnis nach steht Europa für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Nicht zufällig lässt jedes Land, das in die EU will, gleich nach der Bewerbung um den Beitritt eine Gay Pride Parade zu. Meistens zum ersten Mal und unter Einsatz eines massiven Polizeiaufgebots, das die Demonstrierenden und Feiernden vor dem wütenden Mob schützen soll. Nicht umsonst nennt uns Russland, das sich in radikaler Opposition zu der Union sieht, in der wir leben: Gayropa.

Und so gibt es hierzulande das Märchen vom guten Schwulen. Der a) weiß ist, b) dasselbe begehrt wie jede heterosexuelle Person angeblich auch: einen Partner, ein Haus, Autos und Karriere. Einer von ihnen, Jens Spahn, bewarb sich zum Zeitpunkt, als ich an diesem Text schrieb, um den Vorsitz der aktuell regierenden Partei des Landes. Seine Sexualität verschweigt er nicht, allerdings gibt er auch zu, dass er zu seinem privaten wie öffentlichen Coming-out durch innerparteiliche Machtkämpfe gezwungen wurde. Außerdem wird er nicht müde zu betonen, dass er keine »schwule Klientelpolitik« machen will. Auf keinen Fall will er damit auffallen, dass er schwul ist. Sein Markenzeichen ist sein Hass auf die Muslim_innen: Er will Burkas verbieten, wettert gegen in Unterhosen duschende muslimische Männer in Fitnessclubs und zieht Parallelen zwischen der religiösen Herkunft von Tätern und ihren Verbrechen. Wenn es allerdings darum geht, Argumente für seine Demagogie zu finden, kommt Spahn die eigene sexuelle Orientierung gerade recht: Er behauptet, Angst vor dem Islam zu haben, weil man ihn in einem muslimischen Land wegen seiner Homosexualität von Türmen schubsen würde. Auf die Nachfrage eines Journalisten, wie es um die Akzeptanz der Ehe für alle in dem kleinen christlichen Ort steht, aus dem Spahn kommt (Ottenstein im Westmünsterland), antwortete er: »Sicherlich gibt es Vorbehalte. Aber nur weil jemand Vorbehalte hat, ist er deshalb nicht automatisch homophob.«

Demnach wären die Hardliner in Ungarn, Polen, Bayern und den Niederlanden auch nicht homofeindlich, vermutlich auch nicht die eine Million Demonstrant_innen gegen die Ehe für alle, die in Paris vor wenigen Jahren auf die Straße gingen. Nur Moslems sind in Jens Spahns Denkraum Feinde der Schwulen.

Nationale, patriotische, schwule Retter des Abendlandes gibt es zur Genüge. Diese Haltung ist keine Erfindung Spahns. Mit dem Begriff des Homonationalismus beschreibt die Gender-Theoretikerin Jasbir Puar, wie Mitglieder ausgegrenzter Minderheiten ihren (Karriere)Weg in einer Mehrheitsgesellschaft machen: Ökonomisch starke, meist weiße Homosexuelle treten als Vertreter_innen europäischer Errungenschaften auf, die sie gegen vermeintlich homofeindliche Kulturen verteidigen müssen.

Homonationalismus ist selbstverständlich nicht nur den Schwulen vorbehalten: Alice Weidel behauptete unlängst in einer Rede vor Mitgliedern ihrer Partei »Alternative für Deutschland«, dass sie schon Millionärin wäre, wenn sie nur einen Cent für die immer wieder gestellte Frage verlangt hätte, wie sie als lesbische Frau (mit einer Partnerin aus Sri Lanka und zwei adoptierten Kindern, alle leben in der Schweiz) eine rechtsnationale Partei repräsentieren könne. Eine Partei, die in ihrem Programm wenig Konkretes bietet außer Hass auf Minderheiten. Hass auf den angeblichen Genderwahn. Hass auf »den Islam«. You name it.

Weidels Antwort ist vorhersehbar und funktioniert nach demselben Prinzip wie die Argumentation von Jens Spahn: Sie sei natürlich nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Homosexualität in der AfD.

Ich beobachte die Zuhörer_innenschaft, vor der Alice Weidel die zwölfminütige Rede zu ihrer sexuellen Orientierung hält. Sie jubelt. Schrumpelige Opas halten den Daumen hoch. Frauen applaudieren mit glänzenden Augen und sind kurz vor Standing Ovations. Ich frage mich, was wäre, wenn dieselbe Alice Weidel jetzt sagen würde: »Ihr Lieben, der Wohlstand unserer Gesellschaft basiert auf massiver Ausbeutung dieses Planeten und seiner Völker, und darum stehe ich heute hier und fordere die konsequente Umverteilung der Güter und offene Grenzen.« Ich stelle mir vor, wie die Frau mit dem toupierten kastanienbraunen Haar, die ihre Lippen über die Ränder hinaus mit bräunlichem Rot überschminkt hat, ihren Sitznachbarn mit dem Ellbogen anstößt und so, dass alle im Raum es hören können, flüstert: »Sie ist eine Lesbe, oder?« Woraufhin der Herr im gestreiften Hemd und mit rahmenloser Brille, die ihm eng auf der Nasenwurzel sitzt, sein Kinn noch höher in die Luft reckt, seine Arme aus der Verschränkung löst und angewidert die Augen verdreht, vielleicht sagt er auch etwas mit abfällig verzogenem Gesicht.

Ich frage mich, ob Alice Weidel wirklich denkt, dass diese Leute sie als Homosexuelle akzeptieren. Oder ob sie weiß, dass ihr Publikum sie für den Hass feiert, den sie verkörpert und der lange unter dem Deckel politischer Floskeln brodelte und nun in den expliziten Ansagen der AfD offen zutage tritt. Hass auf das Migrantische, auf die »Flüchtlinge«, die »Türken«, die »Araber«, ebenso wie Antisemitismus sind hoch im Kurs bei der »Alternative für Deutschland«, die nach jetzigem Stand drittstärkste Partei in diesem Land ist.

Natürlich versteht Alice Weidel, dass die Menge, die ihr applaudiert, ihr Lesbisch-Sein als Alibi gegen mögliche Diskriminierungs- und Rassismusvorwürfe benutzt. Natürlich weiß Jens Spahn, dass ihm so manches katholische Gemeindemitglied, auch in seinem geliebten Münsterland, in seiner Kindheit eine Behandlung in der Psychiatrie verordnet hätte, den jüngsten Empfehlungen des Kirchenoberhaupts Franziskus folgend.

Alle sogenannten Weltreligionen werden zur Ausgrenzung benutzt, um Homosexuellen- und Frauenfeindlichkeit zu begründen. Da erbringt weder eine liberale Imamin noch eine queere Rabbinerin oder ein offen schwul lebender Pastor den Gegenbeweis. Doch darum geht es weder Spahn noch Weidel. Beide wissen, dass es mit rechten populistischen Parolen schneller auf der Karriereleiter nach oben geht als mit Debatten über das komplexe Thema der Mehrfachdiskriminierung.

Diese beiden Homonationalist_innen besetzen Top-Positionen in der politischen Landschaft Deutschlands zu einem Zeitpunkt, an dem die Wirtschaft floriert, die Arbeitslosigkeit auf einem Tiefstand ist, die Kriminalitätsrate niedrig und die Anzahl der Asylbewerber_innen unter der festgelegten Obergrenze bleibt. Die ansonsten üblichen Erklärungsversuche für den Rechtsruck in Deutschland sind also ausgehebelt.

»Leider scheint es viel einfacher zu sein, menschliches Verhalten zu konditionieren und Menschen dazu zu bringen, sich auf eine völlig unvorhergesehene und entsetzliche Weise zu verhalten, als irgendjemanden davon zu überzeugen, aus der Erfahrung zu lernen, das heißt mit Denken und Urteilen beginnen, anstatt Kategorien und Formeln anzuwenden«, sagt Hannah Arendt in ihrem Essay Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

Gewaltdynamiken, das machen soziologische Untersuchungen deutlich, weisen nicht als Pfeil von Täter zu Opfer, sondern haben die Form einer Triangel. Diskriminierung, Ausgrenzung und Zerstörung finden demnach in einem Spannungsfeld von drei Parteien statt: die angegriffene Person, der_die Angreifer_in und als Drittes die Gruppe, die sich nicht zu der angegriffenen Person bekennt und sich nicht schützend vor sie stellt. Die wegsieht. Die behauptet, nichts sei geschehen. Die versucht, das Geschehene unkenntlich zu machen, und dem Opfer zuredet, es solle kein Aufsehen erregen, indem es den Übergriff publik macht. Für die angegriffene Person kommt das unmittelbare Übel von dem_der Angreifer_in, das nachhaltige jedoch von der Gruppe, die wegschaut. Für sie ist es keine Überraschung, von jemandem attackiert zu werden, der voller Hass auf ihren Lebensstil ist. Dass aber Menschen zuschauen und nicht eingreifen, nicht helfen, vielleicht im Nachhinein sogar das Geschehene leugnen, verursacht die Verletzung, die sie in ihrem Grundvertrauen erschüttert.

(Continues…)


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