Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.
Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.


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Overview
Was macht den Mensch zum Menschen? Generationen von Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, doch wohl keiner hat sie bislang mit der Leichtigkeit und dem funkelnden Geist eines Terry Eagleton beantworten können. Eagleton macht die Kultur als prägenden Aspekt unseres Menschseins aus und spannt in dieser so scharfsinnigen wie witzigen Analyse den Bogen von Klassikern wie Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde bis ins heutige Hollywood. Er zeigt den Verfall der Religion und den Aufstieg und die Herrschaft der »unkultivierten« Massen. Sein Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rückbesinnung auf kulturelle Werte und zugleich eine Anleitung, unsere sozialen Beziehungen zu vertiefen und so die Zivilgesellschaft zu stärken.
Product Details
ISBN-13: | 9783843716376 |
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Publisher: | Ullstein Ebooks |
Publication date: | 09/08/2017 |
Sold by: | Bookwire |
Format: | eBook |
Pages: | 208 |
File size: | 2 MB |
Language: | German |
About the Author
Read an Excerpt
CHAPTER 1
Kultur und Zivilisation
»Kultur« ist ein außergewöhnlich komplexes Wort – das zweit- oder drittkomplexeste Wort der englischen Sprache, wie behauptet wurde –, doch es gibt vier Hauptbedeutungen: (1) der Bestand an künstlerischen und geistigen Werken; (2) der Prozess geistiger und intellektueller Entwicklung; (3) die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolischen Praktiken, nach denen die Menschen leben; oder (4) eine komplette Lebensweise. »Lappländische Kultur« kann Dichtung, Musik und Tanz der Lappen bezeichnen, aber auch die Lebensmittel, die sie essen, die Sportarten, die sie betreiben, die Religion, die sie praktizieren; sie kann sogar die lappländische Gesellschaft als Ganzes meinen, samt Verkehrsnetz, Wahl- und Müllbeseitigungssystem. Das mag alles typisch für die lappländische Kultur sein, wird aber nicht immer zu ihren Besonderheiten gehören. Beispielsweise essen die Lappen Rentierfleisch, aber das tun andere Völker auch. Sie sind gesetzlich verpflichtet, in der kalten Jahreszeit Winterreifen an ihren Autos aufzuziehen, das gilt jedoch auch für andere nordische Länder. Allerdings kann man in Lappland das ganze Jahr über den Weihnachtsmann bei sich zu Hause am Polarkreis besuchen, ein Vergnügen, das man wahrscheinlich nirgendwo sonst auf dem Planeten genießen kann.
Kultur in der künstlerischen und intellektuellen Bedeutung des Wortes kann durchaus Innovation miteinbeziehen, während Kultur als Lebensweise im Allgemeinen nur eine Frage der Gewohnheit ist. Man kann ein neues Klavierkonzert komponieren oder eine neue Zeitschrift herausgeben, doch versteht man Kultur in der allgemeineren Bedeutung des Wortes, grenzt die Vorstellung von einem neuen kulturellen Ereignis schon fast an einen Widerspruch in sich, obwohl es solche Dinge natürlich gibt. Kultur in diesem Sinne ist das, was wir bereits zuvor getan haben – vielleicht sogar das, was unsere Vorfahren bereits Millionen Male zuvor getan haben. Unter Umständen findet unser Verhalten nur dann Anerkennung, wenn es dem ihren entspricht. Kultur im Sinne von Kunst kann avantgardistisch sein, während Kultur als Lebensweise überwiegend eine Frage von Brauchtum und Gewohnheit ist. Da künstlerische Kultur häufig eine Angelegenheit von Minderheiten ist – vor allem bei Werken, die nur schwer zugänglich sind –, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht von Kultur als Entwicklungsprozess, die man durchaus als egalitäreres Phänomen ansehen kann. Wenn diejenigen, die jetzt unkultiviert sind, im Laufe der Zeit die Möglichkeit haben, kultiviert zu werden, könnte es sein, dass jeder kulturelles Kapital anhäufen kann, wenn er es nur will. Man kann sich über die Jahre um sein geistiges Wachstum kümmern, so wie sich die Landwirtschaft über eine Zeitspanne hinweg um das natürliche Wachstum kümmert. Kultur ist nicht etwas, was wir mit einem Mal erwerben können wie einen Welpen oder eine Grippe.
Generell erscheinen die ersten drei Bedeutungen des Wortes nützlicher als die vierte (Kultur als Lebensweise), die Gefahr läuft, sich zu übernehmen. Raymond Williams meint, »die Schwierigkeit des Kulturbegriffs liegt darin, dass wir ständig gezwungen werden, ihn zu erweitern, bis er beinahe mit unserem Alltagsleben identisch ist«. Warum wir »gezwungen« sind, die Bedeutung des Wortes auszuweiten, wird nicht ganz klar, aber Williams hat sicherlich recht, wenn er meint, dem Begriff »Kultur« wohnten gewisse inflationäre Tendenzen inne. Sie scheinen ihn allerdings nicht in dem Maße zu beunruhigen, wie sie es eigentlich sollten. Wenn die ästhetische Bedeutung des Wortes möglicherweise zu eng ist, könnte die anthropologische Bedeutung zu amorph sein. Aber auch so findet die umfassendere Bedeutung durchaus Verwendung. Williams selbst verdeutlicht den Unterschied zwischen Kultur als Kunst und Kultur als Lebensweise durch die Feststellung, dass die Kultur der britischen Arbeiterbewegung sich weniger in Malerei und Dichtkunst manifestiere als in politischen Institutionen: Gewerkschaften, Genossenschaftsbewegung, Labour Party und so fort. Johann Gottfried Herder, mit dessen Werk wir uns später beschäftigen werden, rechnet Industrie, Handel und Technologie ebenso zur Kultur wie Werte und Empfindungen.
In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur zählt T. S. Eliot eine Reihe stereotype englische Beispiele auf: Derby-Tag, Henley-Regatta, Dartboard, Wensleydale-Käse, neugotische Kirchen, gekochter Kohl, eingelegte Rote Beete, die Musik von Edward Elgar und so fort. Zu dieser ziemlich eigenwilligen Auswahl nationaler Schätze meint Raymond Williams, statt die typischen Aktivitäten eines Volkes zu nennen, beschränke sich Eliots Inventar auf Sport, Essen und ein bisschen Kunst, was auf einen älteren, exklusiven Kulturbegriff hinweise. Müsste eine Aufzählung der charakteristischen Aktivitäten der Engländer, so fragt Williams, nicht auch die Stahlherstellung, die Börse, landwirtschaftlich gemischte Betriebe und das Londoner Nahverkehrssystem mit einbeziehen? Mit anderen Worten, Eliot glaubt zwar, Kultur als gesamte Lebensweise (oben, Definition 4) zu beschreiben, beschränkt sich aber in Wahrheit auf die Vorstellung von Sitten und symbolischen Praktiken (Definition 3). Es gibt also ein unmittelbares Problem: Schließt die Kultur eines Volkes seine praktische, materielle Existenzweise ein oder sollte sie auf die symbolische Sphäre begrenzt werden?
Vielleicht ist es nicht zu pedantisch, hier zwischen lappländischer Kultur und lappländischer Zivilisation zu unterscheiden. Malerei, Kochkunst und sexuelle Einstellungen in Lappland wären der Kultur zuzurechnen, während Nahverkehrssystem und Zentralheizungstechnik unter Zivilisation fallen würden. Ursprünglich bedeuteten »Kultur« und »Zivilisation« weitgehend dasselbe; doch wie wir sehen werden, hat man in der Neuzeit nicht nur zwischen ihnen unterschieden, sondern sie sogar als Gegensätze gesehen. In den Annalen der neueren Geschichte werden die Deutschen im Allgemeinen als Repräsentanten der Kultur betrachtet, während die Franzosen den ersten Preis als Fackelträger der Zivilisation bekamen. Die Deutschen haben Goethe, Kant und Mendelssohn, die Franzosen dafür Parfüm, Haute Cuisine und Châteauneuf-du-Pape. Die Deutschen sind vergeistigt, die Franzosen mondän. Es ist die Wahl zwischen Wagner und Dior. Etwas stereotyp ausgedrückt, die Deutschen sind zu hochgeistig, die Franzosen zu abgebrüht.
Oder anders gesagt: Briefkästen gehören zur Zivilisation, aber in welcher Farbe man sie anstreicht (grün zum Beispiel in der Irischen Republik), ist eine Frage der Kultur. In einer modernen Gesellschaft braucht man Ampeln, aber Rot muss nicht unbedingt »Stopp« bedeuten und Grün nicht »Gehen«. Während der Kulturrevolution in Peking wurde die Forderung laut, die Ampelfarben auszutauschen. Ein Großteil der Kultur betrifft weniger das, was man tut, als die Frage, wie man es tut. Der Begriff kann eine Reihe von Stilen, Techniken und bewährten Verfahren bezeichnen. Beispielsweise gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, ein Autounternehmen zu leiten, deshalb kann man die RenaultKultur der Volkswagen-Kultur gegenüberstellen. Jeder hat Verwandte, aber ob die Tradition verlangt, dass im Umgang mit einigen von ihnen üblicherweise Scherze gemacht werden müssen, ist eine kulturelle Angelegenheit. »Polizeikultur« bedeutet nicht so sehr den Besitz von Schlagstöcken und Gummigeschossen als vielmehr die Bereitschaft einiger Polizeikräfte, sie bei der geringsten Provokation einzusetzen. Es geht um die gewohnheitsmäßige Denk- und Handlungsweise der Polizei – welche Einstellung sie beispielsweise zu Vergewaltigern hat oder ob Untergebene gegenüber ihren Vorgesetzten salutieren müssen. Zur australischen Kultur gehört sicherlich nicht die Tatsache, dass es zahlreiche Autovermietungen in Alice Springs gibt, wohl aber beinhaltet sie Barbecues, Australian Football und Strandaufenthalte. Die britische Kultur reicht von der Liebe zu Ironie und Understatement bis zum Tragen roter Plastiknasen bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Manchmal mag der Begriff »Kultur« überflüssig erscheinen. Die Behauptung, es gebe eine verbreitete Kultur der Spielmanipulationen im Fußball, ist gleichbedeutend mit der Aussage, es gebe verbreitete Spielmanipulationen im Fußball. Wenn man es eine Kultur nennt, bedeutet es jedoch, dass es sich um ein gewohnheitsmäßiges, fest verwurzeltes, möglicherweise für selbstverständlich gehaltenes und durch gewisse etablierte Regeln bestimmtes Vorgehen handelt. Kultur in diesem Sinne mag als rein deskriptive Kategorie erscheinen, aber das kann täuschen. Die eigene Lebensweise als etwas ganz Besonderes zu betrachten, setzt beispielsweise voraus, dass man eine Vorstellung davon hat, inwiefern sie sich von der anderer Menschen unterscheidet, und daher vielleicht einen gewissen Argwohn ihnen gegenüber hegt. Die meisten Formen kollektiver Identität beruhen auf dem Ausschluss anderer, manchmal notwendigerweise. Man kann nicht Mitglied des königlichen Colleges für Krankenpflege sein, wenn man professioneller Schwertschlucker ist. Manchmal sind diese Ausgrenzungen auch weniger harmlos. Es bestünde keine Notwendigkeit für nordirische Unionisten, ihre St.-Georg-Flaggen zu schwenken, gäbe es nicht Horden von katholischen Nationalisten auf der Straßenseite gegenüber. Die scheinbar unschuldige Idee der Kultur könnte von Anfang an den Keim der Zwietracht enthalten haben. Im Übrigen kann das, was von einem Standpunkt aus wie eine rein sachliche Benennung aussieht – sagen wir, »die Kultur der landbesitzenden Klasse« –, von einem anderen Standpunkt aus ein ganz anderes Bild ergeben (etwa das der Menschen, die die Felder bestellen müssen).
Der Begriff der Kultur als vollständige Lebensweise eignet sich wahrscheinlich besser für tribalistische oder vormoderne Gesellschaften als für moderne. Tatsächlich ist die Untersuchung vormoderner Völker eine der Quellen, aus denen er entstanden ist. Das liegt nicht daran, dass solche Gesellschaften organische Ganzheiten darstellen würden. Es gibt keine »ganzheitlichen« Gesellschaften in dem Sinne, dass sie frei von Konflikten und Widersprüchen wären. Der Grund ist eher, dass es unter vormodernen Bedingungen schwerer ist, eine klare Trennungslinie zwischen symbolischen Praktiken auf der einen Seite und sozialen oder wirtschaftlichen Aktivitäten auf der anderen zu ziehen. Bei den Dinka Arbeit und Politik unter Kultur zu subsumieren, ist wahrscheinlich sinnvoller, als es bei den Dänen wäre. In vormodernen Zeiten waren die praktischen und symbolischen Tätigkeiten wahrscheinlich enger miteinander verbunden als in der Moderne. Beispielsweise dürften Stammesvölker wohl in der Regel ihre Arbeit und ihren Handel nicht als einen autonomen, als Wirtschaft bezeichneten Bereich wahrnehmen, der sich grundsätzlich von ihren spirituellen Vorstellungen und traditionellen Pflichten unterscheidet. In der modernen Welt dagegen nimmt das Wirtschaftsgeschehen kaum Rücksicht auf altehrwürdige Gesetze und Sitten. Ihr Chef fühlt sich nicht mehr moralisch verpflichtet, sich patriarchalisch um Ihr allgemeines Wohlergehen zu kümmern oder zumindest so zu tun. Wir arbeiten jetzt einfach, um am Leben zu bleiben oder Profit zu machen, und nicht, um (zusätzlich) dem Allmächtigen Ehre zu erweisen, unsere gewohnheitsmäßige Pflicht gegenüber unserem Feudalherrn zu erfüllen oder unsere zugewiesene Rolle im Verwandtschaftssystem des Stammes zu spielen. Soziale Fakten lösen sich allmählich von kulturellen Werten, ein Prozess, der neue Formen der Freiheit, aber auch neue Not bringt. Beispielsweise können wir unsere Arbeit jetzt dem Meistbietenden verkaufen, statt mit Haut und Haar an einen einzigen Herrn gebunden zu sein. Macht kann sich nicht mehr so leicht als geistliche Autorität verkleiden. Wir fühlen uns weniger von den unmerklichen Zwängen der Tradition eingeengt und sind von der lästigen Notwendigkeit entbunden, jedes Mal mit unserem Neffen zu scherzen, wenn wir ihn ansehen.
Nehmen wir den Unterschied zwischen einem Bauern aus dem 19. Jahrhundert und einem modernen Fabrikarbeiter. Auf dem traditionellen kleinbäuerlichen Familienhof sind Arbeit und häusliches Leben enger miteinander verwoben als in einer Textilstadt, wo die Fabrik das eine ist und die häusliche Welt das andere. Beispielsweise haben Kleinbauern Kinder einerseits aus dem gleichen Grund wie alle anderen Menschen, dann aber auch, weil sie, wenn sie heranwachsen, auf dem Land arbeiten, sich um die alten Eltern kümmern und das bescheidene Stück Land der Familie erben können. Kinder sehen nicht nur niedlich aus, sondern bedeuten auch Arbeitskraft, ein Sozialsystem und den Fortbestand des Hofes. In der modernen Zivilisation dagegen lässt sich nur schwer sagen, wofür Kinder da sind. Sie arbeiten zum Beispiel nicht, und einige sind auch nicht besonders ansehnlich. Sie zu haben, ist kostspielig und nicht immer vernünftig. Sie zu pflegen, wenn sie Säuglinge sind, ist eine der mühseligsten Arbeiten, die die Menschheit kennt. So betrachtet, ist es überraschend, dass es der modernen Menschheit überhaupt gelingt, sich fortzupflanzen. Doch unter Kleinbauern und Pächtern ist die Nützlichkeit von Kindern völlig unbestritten.
Wen man unter solchen Bedingungen heiratet, dürfte teilweise auch durch wirtschaftliche Faktoren bestimmt sein, woraus folgt, dass die Trennung zwischen Sexualität und Besitz wohl nicht so klar ist wie in einer Kleinstadt in Ohio. Sexualität ist unter Umständen weniger eine Frage von leiser Musik und CandleLight-Dinners als von Mitgiften und Heiratsvermittlern. Tatsächlich wäre ein erheblicher Teil der Bevölkerung vermutlich glücklich, überhaupt ein Abendessen zu bekommen, egal ob im Kerzenschein oder nicht. Einerseits ist die Verbindung von sexuellen und wirtschaftlichen Faktoren sicherlich ein Kennzeichen der unteren Schichten in ländlichen Gesellschaften, andererseits ist sie aber auch ein Merkmal der Grundbesitzer und Aristokraten. Beispielsweise können Eheschließungen in der Oberschicht das Ziel haben, zwei große Landgüter zu vereinen, wie etwa bei der Heirat von Tom Jones und Sophia Western am Ende von Henry Fieldings Roman Tom Jones, oder sie begründen eine wechselseitig vorteilhafte Allianz zwischen Land- und Industriekapital.
Es gibt also Umstände, unter denen es durchaus sinnvoll ist, die Bedeutung des Wortes »Kultur« auf die soziale Existenz als Ganzes auszuweiten, solange es ohne Nostalgie geschieht. Beispielsweise sollte man nicht behaupten, der Alltag im vorindustriellen Großbritannien sei qualitativ besser gewesen als im heutigen Chicago. Ganz im Gegenteil, er war in vielerlei Hinsicht erheblich schlechter. Ebenso wenig sollte man versuchen, Stammesgesellschaften zu idealisieren. Auf rein deskriptiver Ebene würde der Begriff »Tuareg-Kultur« wahrscheinlich gewisse soziale Alltagsaktivitäten einschließen, die weniger Stress bedeuten als das, was unter »texanischer Kultur« zu subsumieren wäre. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Angewohnheit, nach Öl zu bohren oder Kalaschnikows unter dem Bett aufzubewahren, der Kultur zurechnen lässt. Doch es geht hier noch um einen anderen Aspekt. Ein großer Teil dessen, was in Industriegesellschaften geschieht, gilt als nicht-kulturell, weil es keinen erkennbaren Wert hat. Kohlegruben und Baumwollfabriken gehören in das Reich der materiellen Notwendigkeit, nicht in die Sphäre geistiger Freiheit. Sie sind normativ wie deskriptiv »nicht-kulturell«, soll heißen, dass die Lebensqualität, die sie zu bieten haben, viel zu wünschen übriglässt. Das gilt sicherlich in noch höherem Maße für die meisten vorindustriellen Arbeitsformen. Doch mit der Industriellen Revolution kommt es zu einem leidenschaftlichen Aufstand gegen die Zivilisation schlechthin, die geistig völlig bankrott zu sein scheint. Dies ist jedenfalls die Auffassung so verbitterter Beobachter wie Friedrich Schiller, John Ruskin und William Morris. Es ist auch die Meinung von D. H. Lawrence, der das industrielle England verantwortlich macht für die »völlige Verneinung natürlicher Schönheit, diese völlige Verneinung der Lebensfreude, dieses völlige Fehlen eines Sinnes für Anmut, den jeder Vogel und jedes Tier besaß«. Zivilisation wird jetzt zur nüchternen Tatsache, während Kultur eine Frage des Wertes ist. Nach dieser Begriffsbedeutung scheint Kultur heute unwiederbringlich der Vergangenheit anzugehören. Sie ist das verlorene Paradies, der Garten Eden, aus dem wir rüde vertrieben wurden, die organische Gesellschaft, die immer gerade am historischen Horizont verschwindet.
Die industrielle Zivilisation trägt also zur Entstehung des Kulturbegriffs bei. Allgemein geläufig wurde das Wort »Kultur« erst im 19. Jahrhundert. Je seelenloser und verarmter die alltägliche Erfahrung erscheint, desto eifriger wird das Ideal der Kultur als Kontrast propagiert. Je gröber die materialistische Zivilisation wird, desto erhabener und jenseitiger erscheint die Kultur. Die gutbürgerlichen Kreise in Berlin und Wien begannen von der vollkommenen organischen Gesellschaft im antiken Griechenland zu träumen. Kultur und Zivilisation schienen sich jetzt unversöhnlich gegenüberzustehen. Erstere ist ein romantischer Begriff, während Letztere zur Sprache der Aufklärung gehört.
(Continues…)
Excerpted from "Kultur"
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Copyright © 2016 Terry Eagleton.
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Table of Contents
Über das Buch und den Autor,
Titelseite,
Impressum,
Widmung,
Vorwort,
1 Kultur und Zivilisation Anmerkungen zum Kapitel,
2 Postmoderne Vorurteile Anmerkungen zum Kapitel,
3 Das soziale Unbewusste Anmerkungen zum Kapitel,
4 Ein Kulturapostel Anmerkungen zum Kapitel,
5 Von Herder bis Hollywood Anmerkungen zum Kapitel,
Schluss: Die Hybris der Kultur,
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