Was nie geschehen ist

»Eine kluge und feinfühlige Erzählung.« taz.

Nadja Spiegelman erzählt mehr als ihre eigene Geschichte. Sie zeichnet die Lebenswege dreier Frauen nach, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein eindrucksvolles Debüt über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

Als Kind glaubt Nadja Spiegelman, ihre Mutter sei eine Fee. Ein besonderer Zauber umgibt Françoise Mouly, die erfolgreiche Art-Direktorin des New Yorker. Erst Jahre später, als Nadja allmählich zur Frau wird, bricht dieser Zauber. Immer häufiger trifft sie die plötzliche Wut der Mutter, ihre Zurückweisung, ihre Verschlossenheit. Nadja ahnt, dass sich in Françoises Ausbrüchen deren eigene Familiengeschichte widerspiegelt, und sie beginnt, der Vergangenheit nachzuspüren. In langen Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter stößt sie auf unsagbaren Schmerz und widerstreitende Erinnerungen, aber auch auf die Möglichkeit, im Erzählen einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Ein poetisches, zutiefst ehrliches Buch, das offenlegt, warum uns die, die wir am meisten lieben, häufig am stärksten verletzen.

»Nadja Spiegelman hat ein leidenschaftliches, eindringliches, spannendes Buch über ihre Mutter, ihre Großmutter und sich selbst geschrieben. Ich bin stolz, eine kleine Rolle in dieser komplexen Liebesgeschichte zu spielen, die sich über drei Generationen von Frauen erstreckt.« Siri Hustvedt.

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Was nie geschehen ist

»Eine kluge und feinfühlige Erzählung.« taz.

Nadja Spiegelman erzählt mehr als ihre eigene Geschichte. Sie zeichnet die Lebenswege dreier Frauen nach, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein eindrucksvolles Debüt über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

Als Kind glaubt Nadja Spiegelman, ihre Mutter sei eine Fee. Ein besonderer Zauber umgibt Françoise Mouly, die erfolgreiche Art-Direktorin des New Yorker. Erst Jahre später, als Nadja allmählich zur Frau wird, bricht dieser Zauber. Immer häufiger trifft sie die plötzliche Wut der Mutter, ihre Zurückweisung, ihre Verschlossenheit. Nadja ahnt, dass sich in Françoises Ausbrüchen deren eigene Familiengeschichte widerspiegelt, und sie beginnt, der Vergangenheit nachzuspüren. In langen Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter stößt sie auf unsagbaren Schmerz und widerstreitende Erinnerungen, aber auch auf die Möglichkeit, im Erzählen einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Ein poetisches, zutiefst ehrliches Buch, das offenlegt, warum uns die, die wir am meisten lieben, häufig am stärksten verletzen.

»Nadja Spiegelman hat ein leidenschaftliches, eindringliches, spannendes Buch über ihre Mutter, ihre Großmutter und sich selbst geschrieben. Ich bin stolz, eine kleine Rolle in dieser komplexen Liebesgeschichte zu spielen, die sich über drei Generationen von Frauen erstreckt.« Siri Hustvedt.

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»Eine kluge und feinfühlige Erzählung.« taz.

Nadja Spiegelman erzählt mehr als ihre eigene Geschichte. Sie zeichnet die Lebenswege dreier Frauen nach, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein eindrucksvolles Debüt über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

Als Kind glaubt Nadja Spiegelman, ihre Mutter sei eine Fee. Ein besonderer Zauber umgibt Françoise Mouly, die erfolgreiche Art-Direktorin des New Yorker. Erst Jahre später, als Nadja allmählich zur Frau wird, bricht dieser Zauber. Immer häufiger trifft sie die plötzliche Wut der Mutter, ihre Zurückweisung, ihre Verschlossenheit. Nadja ahnt, dass sich in Françoises Ausbrüchen deren eigene Familiengeschichte widerspiegelt, und sie beginnt, der Vergangenheit nachzuspüren. In langen Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter stößt sie auf unsagbaren Schmerz und widerstreitende Erinnerungen, aber auch auf die Möglichkeit, im Erzählen einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Ein poetisches, zutiefst ehrliches Buch, das offenlegt, warum uns die, die wir am meisten lieben, häufig am stärksten verletzen.

»Nadja Spiegelman hat ein leidenschaftliches, eindringliches, spannendes Buch über ihre Mutter, ihre Großmutter und sich selbst geschrieben. Ich bin stolz, eine kleine Rolle in dieser komplexen Liebesgeschichte zu spielen, die sich über drei Generationen von Frauen erstreckt.« Siri Hustvedt.


Product Details

ISBN-13: 9783841214898
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 03/09/2018
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 384
File size: 4 MB
Language: German

About the Author

About The Author
Nadja Spiegelman, geboren 1987, wuchs in New York City auf und lebt heute in Paris und Brooklyn. Sie ist die Tochter des berühmten Comic-Autors und Pulitzer-Preisträgers Art Spiegelman und der Art-Direktorin des New Yorker, Françoise Mouly.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Als Kind war ich überzeugt, meine Mutter sei eine Fee. Keine Fee mit durchscheinenden Flügeln und einem Zauberstab, sondern eine, die einen Pelz aus dem Secondhandladen und Tinte an den Fingern hatte. Es gab nichts, was sie nicht konnte. An den Wochenenden legte sie eine Schutzbrille an, packte eine Stichsäge und gestaltete ihre Schlafzimmerschränke neu. Sie schloss einen Schlauch an die Armatur in ihrem Badezimmer an, um mein Planschbecken auf dem Dach mit Wasser zu befüllen. Sie half mir, ein Modell des Regenwaldes zu bauen, und schnitzte mit ihrem Schablonenmesser sogar makellose kleine Paradiesvögel dafür.

»Maman«, fragte ich sie, als ich vier Jahre alt war, »wann werde ich eine Fee sein, so wie du?«

»Wenn du sechzehn wirst«, antwortete sie. Also beobachtete ich sie weiter und wartete.

Einmal, mitten in einem Gewitter auf einer Schnellstraße in Brasilien, fuhr meine Mutter plötzlich rechts ran. Ein verlassener, dunkler Strand lag vor uns. Enthusiastisch signalisierte sie meinem Bruder und mir auszusteigen. Wir krabbelten vom Rücksitz, wo wir es uns gemütlich gemacht hatten, und sprangen hinaus in den elektrisierten Regen. Wir folgten ihr, während mein Vater am Straßenrand stand und ihren Namen rief, doch seine Stimme war im tosenden Sturm kaum auszumachen. Wir zogen uns bis auf die Unterhose aus, dann reichte meine Mutter uns ihre Hand, eine für jedes Kind, und wir rannten direkt ins Wasser hinein. Die See packte uns, nur um uns sofort auf den Sand zurückzuwerfen. Wir kreischten vor Lachen. Wir rannten zurück. Aus dem Himmel brach ein Blitz und fiel ins Wasser. Die Wellen überragten meine Mutter um eine ganze Körperlänge.

Mein Vater, der noch immer beim Auto stand, war blass. Furcht und Ärger klangen aus seiner ruhigen Stimme. »Mein Gott, Franc¸oise«, sagte er und schüttelte den Kopf. Nun waren wir zu spät, wie üblich. Meine Mutter lenkte den Wagen zurück auf die Schnellstraße und raste auf den tiefschwarzen Horizont zu. Obwohl wir in zwei Unfälle verwickelt gewesen waren, war mir lange nicht bewusst, dass meine Mutter eine leichtsinnige Fahrerin war; erst mit über zwanzig machten Freunde mich darauf aufmerksam. Jene Eigenschaften meiner Mutter, die sich ihrer Wahrnehmung entzogen, konnte auch ich nicht sehen. Von oben bis unten mit Sand und Salz bedeckt, schliefen wir auf dem Rücksitz ein, die Münder weit geöffnet, während unsere Haare sich beim Trocknen in wilde Locken kringelten.

Meine Mutter missachtete die meisten Gefahren. Sie tat sie als amerikanische Konstrukte ab, erfunden von jenen verhuschten Frauen, die auch ihr Gemüse wuschen. Sie war einfach sicher, dass nichts schiefgehen würde. »Also, dass man bei Gewitter nicht schwimmen soll, habe ich nun wirklich noch nie gehört«, sagte sie, als ich die Geschichte Jahre später erwähnte. Ihre Stimme kippte ein wenig, sie wurde abweisend. Sie mochte es nicht, wenn man über sie lachte.

Es gab auch noch andere Urlaube – wie etwa den, in dem meine Mutter uns, genervt von den anderen Müttern, aus der Ferienanlage entführte. Während die anderen sich beschwerten, dass es auf dem Frühstücksbuffet keinen Apfelsaft gab, ließ sie mich auf Feldwegen unseren Leihwagen fahren. Es war ein Jeep mit Gangschaltung, und meine Füße reichten kaum bis zu den Pedalen. Dann war da noch der Urlaub, in dem sie kein einziges Hotel im Voraus gebucht hatte. Stattdessen fuhr sie die Küste von Costa Rica entlang und kaufte alle seltsamen Früchte, die am Straßenrand feilgeboten wurden. Mein Vater begleitete uns nur selten. Einmal nahm meine Mutter im Wald eine Handvoll Erde, steckte sich ein wenig davon in den Mund und tat dann dasselbe bei uns. Sie erklärte, das stärke unser Immunsystem. Als Kinder waren wir häufig krank, danach sehr selten. Mein Bruder und ich lernten, dass einen stets die Angst in Gefahr brachte. Uns würde nichts zustoßen – diese Gewissheit unserer Mutter begleitete uns auf Schritt und Tritt, sie umgab uns wie ein Kraftfeld.

»Weißt du, wann ich mich endlich von meiner Mutter befreit gefühlt habe?«, fragte mich meine Mutter. Mehr als einmal hat sie diese Geschichte erzählt, sie war mehr eine Allegorie als eine Anekdote.

Ich war ein Baby. Sechs Monate alt. Sie hatte mich mit nach Frankreich genommen, um mich der Familie vorzustellen. Das waren die goldenen Jahre, an die ich mich niemals erinnern werde. Jene Jahre, in denen sie mich niemals ablegte. Sie trug einen weiten Mantel, darunter ein Tragetuch. Darin lag ich. Wir teilten einen Körper. Nachts wachte sie auf, bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, um zu schreien, und fütterte mich.

Doch als sie an jenem Abend das Haus ihrer Freunde betrat, sagte man ihr, sie solle mich während des Abendessens einfach im Schlafzimmer der Gastgeber lassen. Zögerlich befolgte sie den Rat. Als das Essen serviert und die zweite Runde Wein eingeschenkt wurde, fing ich an zu schreien. Meine Mutter sprang auf.

»Lass sie«, sagte die französische Freundin. »Der Lärm stört uns nicht.« Meine Mutter ging auf die Tür zu.

»Sie wird niemals lernen, mit dem Schreien aufzuhören, wenn du sie jedes Mal auf den Arm nimmst«, sagte die Freundin und schlug dabei jenen autoritären Ton an, den die Franzosen oft anschlagen, wenn sie jemandem einen weisen Rat geben: Du wirst dir eine Erkältung holen, wenn du mit nassen Haaren nach draußen gehst; Brot hat mehr Kalorien, wenn es nicht ganz durch ist; du wirst niemals einschlafen können, wenn du abends noch Ingwertee trinkst.

Meine Mutter zögerte, dann setzte sie sich wieder. Meine Schreie wurden lauter.

»Sie wird sich müde schreien«, erklärte eine andere Freundin. Doch meine Mutter hatte den Tisch bereits wieder verlassen, um mich auf den Arm zu nehmen. Während sie mich beruhigte, mich wiegte und eng an ihren Körper drückte, hörte sie Gesprächsfetzen aus dem anderen Zimmer, ein Chor der Missbilligung. »Nun, das Baby ... Als mein Kind ... Sie muss einfach ... Es wird sie bloß ermuntern ...« So wäre das also, dachte meine Mutter, als ich mich, so an ihren Körper geschmiegt, langsam beruhigte. So wäre das also, wenn ich sie hier großziehen würde. Alles würde sich wiederholen.

Sie dachte an die hohen Decken ihres Lofts in Manhattan. Sie dachte an die Straßen, an das Gedränge von Chinatown, in dem wir unsichtbar waren, sie und ich. Und da begriff sie, dass sie frei war.

»Mir wurde klar, dass ich eine neue Definition von Mutterschaft entwickeln konnte«, sagte sie nun. »In Amerika war ich so weit weg von all dem. Ich hatte keinen Plan, keine Regeln. Also entwarf ich meinen eigenen Plan. Bis ins Detail. Ich hatte keine Ahnung, was ich da tat. Alles, was ich wusste, war, dass es anders sein würde.« Jetzt, also jetzt, da ich ihre Vergangenheit kannte, sah ich beides. Ich sah, was meine Mutter alles getan hatte, um sich von ihrer eigenen Mutter zu unterscheiden. Und ich sah auch, wie die so lang verschwiegene Vergangenheit uns lenkte. Sie glich einer unsichtbaren Strömung im Ozean, sie definierte unseren Abstand, unsere Nähe zueinander, und sie verlief in einer solchen Tiefe, wir merkten kaum, dass nicht wir selbst den Kurs bestimmten.

Meine Mutter war achtzehn, als sie Paris verließ und nach New York floh. Schon immer hat meine Familie in jener Loftetage in SoHo gelebt, in die meine Mutter 1974, ihrem ersten Jahr in Amerika, einzog. Ich versuchte mir den Ort so vorzustellen, wie ich ihn von alten Fotos kannte. Damals war es ein Durcheinander, voller Möbel, die sie von der Straße heraufgeholt hatte. Bücherregale und andere improvisierte Konstruktionen dienten als Raumtrenner. Kurz nach meiner Geburt baute meine Mutter echte Wände, Türen und Treppen. Die Zwischengeschosse erreichte man über Leitern, doch es gab auch Strickleitern, die ins Nichts führten, und Trapeze, die mit großer Sorgfalt an den tragenden Balken befestigt waren – so sah er aus, der Grundriss meiner Kindheit.

Zweimal im Jahr besuchten wir alle zusammen ihre Familie in Frankreich. Die geschiedenen Eltern, ihre zwei Schwestern und einen Cousin. Mehr Familie hatte ich nicht. Insgesamt neun Menschen, mich selbst eingeschlossen. Auf der Seite meines Vaters gab es niemanden mehr.

Meine Großmutter verbat es sich, Grand-mère genannt zu werden, also nannten wir sie Josée, wie jeder andere auch (mal buchstabierte sie ihren Namen mit einem e am Ende, mal ohne, und wenn sie ihn aussprach, klang es wie Joe-Zay). Josée lebte auf einem Hausboot, das am Stadtrand von Paris festgemacht war, dort, wo die Seine einen Bogen macht und die nordwestliche Stadtgrenze erreicht. Sie hatte einen ehemaligen Frachtkahn gekauft und daraus ein luxuriöses Hausboot gemacht, das sie in ihrem eigenen, absolut einzigartigen Stil gestaltet hatte. Cremefarbene Teppiche, japanische Schiebetüren, in der Mitte ein Whirlpool – direkt unter einem achteckigen Oberlicht, das sich wie eine Blüte dem Himmel zuwandte. Ein Tisch erhob sich per Knopfdruck aus dem Boden. Gäste wurden angehalten, ihre Schuhe an der Tür auszuziehen oder Plastiküberzüge darüberzustülpen, falls sie sie anbehalten wollten.

Dieses Hausboot und mehrere andere, die sie zuvor renoviert und verkauft hatte, wurden in Magazinen vorgestellt. Ein ganzer Stapel dieser Magazine lag unter dem hängenden, rot lackierten Kamin. Die Wände des Gäste-WCs waren mit Bildern von ihren Reisen gepflastert: im Sari auf einem Elefanten, mit schwarz bemaltem Gesicht und in Leopardenfelle gehüllt, in Lederhosen und nichts weiter (zusammen mit einer Bescheinigung, dass »die Inhaberin dieses Dokumentes beim Mardi Gras im Jahr 1998 ihre Titten gezeigt hat«). Lange nachdem meine Großmutter eine schöne Frau gewesen war, war sie immer noch schön. Sie benahm und kleidete sich auf eine Art, die keinen Zweifel daran ließ. Sie umrandete ihre Augen mit blauem Eyeliner. Nie stellte sie mir Fragen über mein Leben.

Es gab immer einen Augenblick des Atemanhaltens, während meine Großmutter uns unsere Plätze am Tisch zuwies, ihre Entscheidungen waren so wohlüberlegt und zielgerichtet wie die der Queen. Diejenigen, die in ihrer Nähe saßen, standen hoch in ihrer Gunst, diejenigen, die weiter weg saßen, taten es nicht. Liebe war ein Nullsummenspiel. Weil meine Mutter selten kam, saß sie oft in ihrer Nähe. Ihre Schwestern, die am anderen Ende des Tisches Platz genommen hatten, gaben sich Mühe, sie nicht böse anzustarren.

Schon früh war mir klar, dass meine Tanten im Dunstkreis ihrer Eltern gefangen waren, wie Motten, die mit verkohlten Flügeln um eine Kerze kreisen. Warum ich das erkannte, wusste ich nicht. Sie waren Erwachsene und doch nicht erwachsen. Wenn sie ihrer Mutter Rede und Antwort standen, änderten sie ihre Tonlage auf die gleiche Art und Weise, wie ich es gegenüber meiner eigenen tat.

Andrée, die sechs Jahre jünger war als meine Mutter, war mir am nächsten. Sie hatte Motorradunfälle, bei denen sie sich die Knie brach, sie lebte in den übelsten Gegenden von Paris, und sie hatte wilde Liebesaffären. Sylvie, die anderthalb Jahre älter war als meine Mutter, sprang ständig auf, um Teller aufzutragen und abzuräumen, wobei sie sich laut seufzend als Märtyrerin der Familie aufspielte. Doch wenn sie mit den Kindern sprach – mit ihrem Sohn (unserem einzigen Cousin), mit meinem Bruder oder mir –, dann konnte sie auch lachen, und zwar laut, glucksend, wiehernd und unbefangen wie ein Kind.

Während dieser Besuche hielt ich mich an meine Mutter. Tief in mir wusste ich, dass ihre Familie gefährlich war, und sie hatte uns beigebracht, auf der Hut zu sein, genau wie beim Überqueren der Canal Street oder wenn es um Fastfood ging. Sie behandelte ihre Schwestern mit der gleichen höflichen Reserviertheit, die sie Frauen zuteilwerden ließ, denen sie nicht vertraute. Ihren Eltern gegenüber war sie ebenso überschwänglich freundlich und respektvoll, wie sie es gegenüber den Eltern anderer gewesen wäre. Ich verhielt mich genauso. In Paris war meine Stimme eine Oktave höher. Ich sagte kaum mehr als merci, oui, merci, s'il te plai^t, c'est délicieux, merci und stellte mich auf die Zehenspitzen, um eine nicht enden wollende Reihe von Wangen zu küssen.

Als ich klein war, beobachtete ich, wie meine Mutter vor jeder Begegnung mit ihrer Familie Haltung annahm, sich vorbereitete – ich sah den strengen Blick, mit dem sie sich im Spiegel musterte, und den Lippenstift, den sie wie eine Rüstung auftrug. Der Großteil der Unterhaltungen am Tisch wurde in einer Sprache geführt, die ich nicht verstand, es gab einen Code, der mir unbekannt war, aber ich spürte, dass das Geplänkel voller Spitzen war, jedes Kompliment einen vergifteten Kern hatte. Ich hörte auch die Kommentare, die mich betrafen – die finsteren Bemerkungen zum Pony, den ich mir gerade erst hatte schneiden lassen. Ich bemerkte das wissende Nicken, das immer wieder die Runde machte, die Art, wie sie sich alle einig darüber waren, dass ein zweites Stück Kuchen das Allerletzte war, was ich brauchte. Ich fürchtete diese Abendessen, aber ich liebte die Fahrten im Taxi, zurück nach Hause. Dort, auf dem Rücksitz, fühlte ich mich plötzlich sicher und geborgen im Schoß meiner vierköpfigen Familie, die nun, da sie auf ihre ursprüngliche Größe zurückgeschrumpft war, besonders harmonisch wirkte.

Meine Mutter war ganz außer sich vor Erleichterung. »Das Beste, was ich je getan habe, war, dafür zu sorgen, dass sich zwischen denen und mir ein ganzer Ozean befindet«, sagte sie an diesen Abenden oft.

»Ich habe solches Glück, dass ich all dem entkommen bin«, sagte sie bei anderen Gelegenheiten. »Ich hätte das schlicht nicht überlebt. Kannst du dir das vorstellen, also kannst du dir vorstellen, wie mein Leben dort ausgesehen hätte?« Aber ich konnte es mir nicht vorstellen. Obwohl die Vergangenheit ständig präsent war, konnte ich sie nicht lesen. Sie war in den Narben, die ich als kleines Kind mit dem Finger abfuhr, in den seltsamen Dingen, die meine Mutter in Rage brachten. Sie fand sich sogar in meinem Körper, als eine Wunde, eine Furcht, für die mir weder ein Name noch eine Erklärung einfallen wollte. Die Vergangenheit unterwanderte alles, sie war das Fundament, auf dem wir beide standen. Und dennoch, ebenso wie ihr französischer Akzent, der auch nach vierzig Jahren in Amerika noch zu hören war, entzog sich die Vergangenheit meiner Wahrnehmung, weil sie einfach zu präsent war.

Konnte meine Mutter denn überhaupt jemals ein Mädchen gewesen sein? Ich wusste, was es bedeutete, ein Kind zu sein, dass Gefühle einen einfach umhauen konnten mit ihrer Intensität und dass die Erwachsenen das nie zu verstehen schienen. Über die Kindheit meiner Mutter hingegen wusste ich fast nichts. Die meisten ihrer Narben stammten von Unfällen. Die vier- oder fünfmal gebrochene Nase. Die Stelle, wo ein scharfkantiger Metallzaun sich einmal komplett durch ihren Arm gebohrt hatte. Eine Wunde am Kopf, die sie sich an einer Kante im Flur der Familienwohnung zugezogen hatte. (»Ich wusste gar nicht, dass du ein rotes Kissen hast«, sagte ihre Großmutter Mina, als sie sie anschließend in ihrem Zimmer fand.) Das waren die lustigen Geschichten. Aber es gab noch andere Narben, an ihren Handgelenken, an verborgenen, weichen Stellen, Narben, die sie im Inneren ihres Körpers trug – über die sprach sie nie, und ich fragte nie nach ihnen.

»Nach der Scheidung kam mein Vater manchmal in mein Zimmer und ...«, sagte meine Mutter einmal, dann fing sie sich. »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist.« Als ich ihr von den Schnitten an den Armen der Freundin, mit der ich zu Schulzeiten zusammen war, erzählte, sagte sie: »Weißt du, als ich in dem Alter war ...« Und dann, nach einem raschen Seufzer: »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist.« Ganz selten rutschte ihr etwas heraus, manchmal vergaß sie aber auch einen Augenblick lang, dass ich zuhörte. Ihr Vater war oft nackt durch den Flur geschlendert und hatte die jungen Haushälterinnen damit schrecklich in Verlegenheit gebracht. Einmal, an Weihnachten, hatte er ihr, rein prophylaktisch, den Blinddarm entfernt. Wenn ich sie aber ganz direkt nach ihrer Kindheit fragte, dann erzählte sie mir bloß die lustigen Geschichten, die unkomplizierten: die Geschichte zum Beispiel, als sie und ihre Schwester das Bett kaputt gemacht und das Missgeschick dann auf ihre dicke Großmutter geschoben hatten, oder die Geschichte, als meine Mutter Sylvie das Haar abgeschnitten hatte, während diese schlief. Ich sah bloß die ausgefransten Ränder der Löcher in den Geschichten, spürte lediglich die Nachbeben der Explosionen. »Davon erzähle ich dir, wenn du älter bist«, sagte sie jedes Mal, wenn ich versuchte, mehr aus ihr herauszukriegen, denn sie wusste, dass nur eine von uns ein Mädchen sein konnte. Und nur eine von uns eine Frau.

(Continues…)



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