Tulpenliebe: Roman

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Overview

Haarlem 1635: Die Niederlande erleben ein goldenes Zeitalter, der Handel mit Tulpen führt zu großem Wohlstand und zu einer künstlerischen Blütezeit. Auch die junge Malerin Hester Falliaert träumt davon, eine eigene Werkstatt zu eröffnen und einmal der berühmten Lukasgilde anzugehören. Doch dann lernt sie den charmanten Maler Christiaan Blansjaar kennen und nimmt seinen Heiratsantrag an. Hester glaubt an eine Künstlergemeinschaft, aber schon bald nach der Hochzeit zeigt Christiaan sein wahres Gesicht: Aus Eifersucht auf ihr Talent lässt er sie nur noch Hilfsarbeiten ausführen. Als Christiaan in den Besitz einer wertvollen Tulpenzwiebel kommt, schmiedet Hester einen Plan, wie sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen kann ...

Ein farbenprächtiger Roman über die Niederlande zur Zeit des Tulpenfiebers


Product Details

ISBN-13: 9783843717670
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 03/09/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 368
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Femke Roobol wurde 1966 in Den Haag geboren. Sie studierte italienische Sprach- und Literaturwissenschaften und arbeitete als Fremdsprachencoach, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Alkmaar an der niederländischen Küste.

Wibke Kuhn (geboren 1972) übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Schwedischen und Englischen. Zu ihren Übersetzungen zählen zahlreiche Bestseller, darunter etwa die Romane von Stieg Larsson und Jonas Jonasson.

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Eine kluge Malerin

Oktober 1635 – April 1636

Hier malte noch jemand mit gutem und klugem Verstand. Samuel Apzing über Judith Leyster in seiner Beschrijvinge ende lof der stad Haerlem in Holland, 1628

1

Mit einem dumpfen Geräusch fiel der Klopfer an die Tür des Ateliers in der Korte Barteljorisstraat. Ich trat einen Schritt zurück und schaute an der Fassade empor, hinter der nicht die Geschäftigkeit herrschte, die ich erwartet hatte, sondern vielmehr Totenstille.

Es war das Ende eines Arbeitstags, gegen sechs Uhr. Die Sonne stand schon tief und verschwand hinter den Hausdächern. Mein Körper warf einen lang gestreckten Schatten auf den Boden, der mir folgte, wenn ich mich bewegte.

Zwei Kinder schoben einen Karren in die schmale Gasse. Ich drückte mich an die Wand, damit sie vorbeikamen.

Das magere Mädchen drehte sich nach mir um, als sie mich passiert hatten. Im Gesicht hatte sie einen schwarzen Fleck, und der Saum ihres Rockes hatte sich gelöst. »He!« Der Junge blieb stehen und streckte die Hand aus. »Hast du ein Stück Brot für uns?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Und Geld?«

»Nein«, sagte ich, und die Kinder liefen weiter. Ich strich mir ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und klopfte an eines der Fenster, was aber auch keine Reaktion auslöste.

Vorsichtig drückte ich gegen das raue Holz der Tür, und tatsächlich ging sie knarrend auf. Ich warf einen flüchtigen Blick in den leeren Gang. Am Ende hing ein hochgeraffter Vorhang. »Juffrouw Leyster!« Ich wartete kurz, dann trat ich einfach ein.

Meine Augen mussten sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Der Arbeitsplatz war größer, als man von außen vermutet hätte. Einige Fensterläden waren geschlossen, und es brannten gerade mal zwei Kerzen.

Judith schaute von ihrer Staffelei auf. Ihre Malerschürze und die Ärmel ihres Kleides waren voller Farbflecken, ihre Haare waren straff zurückgebunden und ließen ihre hohe Stirn sehen. Wir waren uns schon mal auf dem Fleischmarkt begegnet, aber das hatte nie zu einem richtigen Kennenlernen geführt.

»Kann ich Euch helfen?« Sie stand auf und legte Pinsel und Palette aus der Hand.

Ich machte einen höflichen Knicks. »Ich bin Hester Falliaert. Hättet Ihr kurz Zeit für mich?«

Ihre lebhaften Augen betrachteten mich neugierig. »Ist es wichtig? Wenn nicht, kommt bitte morgen wieder, ich wollte gerade aufhören.«

»Es dauert höchstens ein paar Minuten.« Meine Worte klangen hölzern vor Nervosität, und ich hatte Angst, dass sie mir meine Bitte abschlagen würde. »Darf ich bei Euch arbeiten?« So plump hatte ich die Frage eigentlich nicht vorbringen wollen. Vater sagte immer, dass man mit Schmeichelei weiterkam als mit einer direkten Frage. »Nie zu gierig sein. Nicht alle Karten gleich auf den Tisch legen, bevor du sicher bist, dass du einen guten Vorschlag machen kannst.« Ich konnte mir einen ärgerlichen Seufzer nicht verkneifen.

»Wie soll das aussehen?« Judith ließ den Blick über mich wandern und blieb an meiner Jacke hängen, die meine Herkunft als Kaufmannstochter sofort verriet. »Malt Ihr denn?«

Ich stolperte über meine eigenen Worte, als ich ihr erzählte, dass ich seit meinem elften Lebensjahr bei meinem Onkel Elias in Leiden in der Lehre gewesen war. Nach meiner Ausbildung war ich noch länger geblieben, um mein Meisterstück zu machen, und nachdem er nun ins Ausland gezogen war, wohnte ich wieder zu Hause bei meinem Vater. Den anderen, den wichtigsten Grund verriet ich nicht. Auf ihrem Gesicht zeigten sich Skepsis und Ungläubigkeit. Sie wusste nicht, dass ich genauso gut war wie die meisten Maler in Haarlem.

Wir standen uns minutenlang im Zimmer gegenüber. Aus der Ferne hörte ich Straßenlärm: Eine Mutter rief ihr Kind, ein Wagen ratterte über die Pflastersteine. Die Glocken des Glockenturms bei der Grote Kerk begannen zu läuten. Ich scharrte mit den Schuhen über die Fliesen.

Das Atelier sah sehr ordentlich aus. Der Boden war gefegt, an der Wand stand ein Arbeitstisch mit einem Stein, auf dem man Pigmente reiben konnte. Es roch nach Leinöl und Farbe. Am liebsten hätte ich sofort ein paar Pinsel ausgepackt und mit dem Malen begonnen. Drei Staffeleien standen für den nächsten Tag bereit. Auf der ersten, mit Seitenlicht vom Fenster, damit kein Schatten auf die Leinwand fiel, wenn man die Farbe auftrug, stand ein halb vollendetes Porträt. Das zweite zeigte die Bleichwiesen außerhalb von Haarlem, und das dritte war ein Stillleben. In diesem wohlorganisierten Atelier würde sich jeder Künstler sofort an die Arbeit machen wollen.

»Warum ausgerechnet bei mir?« Judiths Stimme klang sanft. Mit den Pinseln in der Hand ging sie zu dem Tisch in der Ecke, auf dem ein Pinselhalter stand. Sie goss ein wenig Öl aus einer Kanne hinein und legte die Pinsel in den Behälter. Ihre Handgriffe – Tätigkeiten, die ich selbst jahrelang tagtäglich verrichtet hatte, um die Pinselhaare weich zu halten – riefen eine Sehnsucht in mir hervor, die fast zu groß für meine Brust war.

Mit verschränkten Armen zwang ich mich zum Stillstehen. »Ihr seid die einzige Frau in der Stadt.«

Sie drehte sich zu mir um. »Ist das denn wichtig?«

»Ja.« Wenn ich ihr hätte schmeicheln wollen, hätte ich gesagt, dass sie die Beste war. Aber ich verstand mich nicht so gut auf schöne Worte. »Bitte. Bringt mir bei, wie man seinen eigenen Arbeitsplatz leitet, so wie Ihr.« Sie wusch sich die Hände in einem Wassereimer und trocknete sie an ihrem Rock ab. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. »Sag einmal, wie alt bist du eigentlich, Hester Falliaert?«

»Sechsundzwanzig.«

»Und was malst du so alles?«

»Porträts, Stillleben, Blumen.«

Mit einer Handbewegung forderte sie mich auf, mich zu setzen.

Als ich an diesem Morgen aufgewacht war, sah ich als Erstes aus dem Fenster auf den kleinen Platz hinter unserem Haus. Es war ein schöner Tag, der Himmel war blau, und die Sonne schien mit aller Kraft. Ich nahm mir vor, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, damit Haarlem und ich uns wieder aneinander gewöhnen konnten. Ich wollte die Herbstfarben mit eigenen Augen sehen und die Orte aufsuchen, an denen ich zum letzten Mal als kleines Mädchen gewesen war.

Als ich nach unten kam, stand das Frühstück schon auf dem Tisch. Ich gab meinem Vater einen Kuss und setzte mich an den Ebenholztisch.

Während des Essens rutschte mein Vater ungeduldig auf dem Lederbezug seines Stuhls hin und her. »Heute Abend kommt Korneel Sweerts vorbei, der Tuchhändler.«

Die Hand, in der ich mein Brot hielt, begann zu zittern. »Bitte?«

Vater beugte sich tiefer über seinen Teller. »Er ist ein guter Geschäftsfreund.«

Lustlos nahm ich noch einen Bissen. Man brauchte kein Gelehrter zu sein, um zu verstehen, warum Sweerts seit meiner Heimkehr dreimal die Woche mit kleinen Geschenken vorbeikam.

Das Brot schmeckte mir nicht mehr, und ich schob meinen Teller beiseite. »Wo kann ich meine Sachen hintun, Vater? Mein Schlafzimmer ist zu klein.«

Er wich meinem Blick aus. »Wir finden schon Platz für dich, mein Schatz.«

Ich wartete darauf, dass er noch mehr sagte, aber sein Blick wanderte nur ein paarmal zum Porträt meiner verstorbenen Mutter, als würde er sie um Rat fragen.

Bevor ich aus Leiden weggegangen war, hatte es nichts gegeben, was meinem Vorhaben, ein eigenes Atelier zu eröffnen, im Weg gestanden hätte. Meine ganze Jugend bestand aus Malen, und ich dachte, dass es immer so bleiben würde. Kleinere Schwierigkeiten in meinem Leben hatte mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, geregelt. Früher hatten die Wärme und Zuneigung meines Onkels und seiner Frau mir das Gefühl gegeben, dass ich vor der Außenwelt beschützt wurde. Doch dann veränderte sich alles, und die Malerwerkstatt wurde geschlossen. Jetzt, wo ich wieder in Haarlem war, verursachte mir der Umstand, dass ich vor neuen Herausforderungen stand, sowohl Angst als auch Nervosität.

Nach dem Gebet stand mein Vater mühsam auf.

»Setzt Euch Eure Gicht wieder so zu?« Ich legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Es geht schon.« Er gab mir einen Kuss auf die Stirn.

Nachdem er den Raum verlassen hatte, starrte ich noch einen Augenblick ins Kaminfeuer, bevor ich nach oben ging, um mein Umschlagtuch zu holen.

Auf meiner Staffelei stand ein gerade vollendetes Porträt einer Frau. Ich hatte es in Leiden gemalt und noch nicht mit Firniss überzogen. An den Türpfosten gelehnt, betrachtete ich den gesenkten Kopf, die Falten ihrer Haube und die verschiedenen Schattierungen von Bleiweiß in ihrer Schürze. Das Sonnenlicht verlieh den Wangen der Frau eine hellrote Glut. Es war ein schönes Gemälde, und es würde sich einmal prächtig an der Wand eines Käufers ausnehmen.

Tränen stachen hinter meinen Lidern, als ich mir das Umschlagtuch fester um die Schultern zog. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine Stelle bei einem anderen Maler in der Stadt zu suchen. Die Erste auf meiner Liste war Judith Leyster. Ich hoffte, dass sie mich empfangen würde.

»Derzeit nehme ich keine Lehrlinge auf«, sagte Judith. »Und du hast ja schon deinen Meister gemacht, warum kommst du überhaupt zu mir?«

Ihre Worte holten mich zurück in die Gegenwart. »Ich bin noch nicht bereit, eine eigene Werkstatt aufzumachen. Von den praktischen Dingen habe ich keine Ahnung.« Wortlos schenkte Judith einen Becher Wein ein.

Meine Hand zitterte leicht, als ich danach griff. »Ich bezahle dich auch. Ich habe in den letzten Jahren gespart.«

»Es geht mir nicht ums Geld.« Mit angespanntem Blick stand Judith auf. »Obwohl, im Grunde schon ...«

Ich verstand nicht, was sie meinte, und das konnte sie wahrscheinlich an meinem Gesicht ablesen.

»Einer meiner Lehrlinge ist zu Frans Hals übergelaufen. Das Lehrgeld, das er mir schuldet, muss ich mir jetzt irgendwie über die Gilde zurückholen.« Sie nahm eine von den Schweineblasen, in denen die Farbe aufbewahrt wurde, und behielt sie einen Moment in der Hand, bevor sie sie wieder zwischen die anderen legte. »Seine Mutter will seine Sachen zurückhaben. Bis der Vertrag aufgelöst ist, will ich mich an niemand anderen binden.«

»Aber die Prozedur kann sich doch noch monatelang hinziehen, wenn nicht Jahre!« Frustriert klammerte ich die Hände umeinander. »Ich brauche jetzt einen Platz.«

»Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen«, sagte Judith mit einer entschuldigenden Geste. Sie wechselte das Thema und fragte: »Woran arbeitest du derzeit?«

»An gar nichts. Meine Staffelei steht derzeit in meinem Schlafzimmer.« Hilflos lehnte ich mich zurück. In diesem Augenblick saß Vater in seinem Sessel mit der geschwungenen Rückenlehne, und Sweerts war wahrscheinlich schon unterwegs zu unserem Haus.

Mit einem Schritt trat Judith neben mich und nahm meine Hand. »Bist du schon bei jemand anderem gewesen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich dachte als Erstes an dich, weil du auch eine Frau bist. Selbstständig, mit einem eigenen Geschäft. Wenn es jemand versteht, dann doch du.« Mit gerunzelten Brauen sah Judith auf ihre Schuhe. »Ich werde mich umhören, ob es irgendwo anders einen Platz für dich gibt. Kannst du morgen wiederkommen?«

Ich nickte nur, denn ich brachte kein Wort mehr heraus.

Rötliches Abendlicht fiel über die Hausdächer. Das Wasser in den Grachten spiegelte die Giebel, und die Blätter der Linden sahen aus wie Gold. Ich ging an der Apotheke im Barteljorissteeg vorbei, aber ich ging nicht hinein, um neue Pigmente zu kaufen. Ich brauchte keine.

Mein nächstes Gemälde hatte ich schon im Kopf. Ich sah die Komposition vor mir: ein Stillleben. In der Mitte eine Vase, die auf einem Tisch steht, ein Strauß, ein paar Tulpen. Ich konnte mit dem Hintergrund beginnen, und wenn Frühling war, würde ich bunte Blumen pflücken und sie malen. Aber keine Insekten mehr, auch wenn sie das Gemälde lebendiger machten. Nach dem, was mir in Leiden passiert war, würde ich niemals mehr versuchen, Schmetterlinge auf die Leinwand zu bannen.

Auf dem Heimweg blieb ich kurz vor der Melkbrug stehen. In der Bucht schaukelten die Schiffe auf den Wellen der Spaarne, und in der Ferne sah man Vaters Lagerhaus. Ich drehte ihm den Rücken zu.

Meine Füße trugen mich wie von selbst zum Grote Houtpoort. Hier trat ich auf den Kai. Im letzten Licht des Tages war Haarlem von betörender Schönheit: Die Grote Kerk überragte alles, die Spaarne wand sich wie eine Schlange quer durch die Stadt. Die Fleischhalle auf dem Markt war verziert mit Rinder- und Schafsköpfen, neben der Fischhalle warfen die Fischverkäufer gerade ihre Abfälle weg. Vom Zentrum liefen die Straßen und Gassen in alle Richtungen, wie die Fäden eines Spinnwebens.

Auf der anderen Seite der Stadtmauer lagen die Gärten der Reichen und die Tulpenpflanzungen. Im Frühling und Sommer ging ich gern zwischen den Blumen spazieren, aber im Herbst gab es wenig zu sehen. Da steckten zwar schon die Zwiebeln in der Erde, aber die Blumen kamen erst in ein paar Monaten.

Der Wind riss an meinem Rock und meinem Mantel. Ich zog mir die Haube vom Kopf, sodass meine Haare um mich herumflatterten. Lange betrachtete ich die Landschaft. Die Ränder der Wolken leuchteten orangerot, ein Pärchen stand ganz still auf dem Geldelozepad und hielt sich im Arm. Sonst war kein Mensch zu sehen.

Wie aus dem Nichts landete ein grauer Vogel mit krummem Schnabel neben mir. Er schlug mit den Flügeln und wippte drohend hin und her.

»Guter Gott, steh mir bei.« Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Das Tier richtete sich auf, und sein Schnabel öffnete und schloss sich. Es kam noch ein Stück näher, und ich hatte schreckliche Angst, dass es nach mir picken würde. Da ich befürchtete, es mit jähen Bewegungen zu reizen, ging ich auf alle viere und kroch rückwärts, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Der Vogel hüpfte ein Stück von mir weg, und ich atmete erleichtert auf. Das große Tier hatte Ähnlichkeit mit einer Gans, war aber keine. Es musste eine andere Art sein, die ich nicht kannte. Als Vorbote schlimmer Ereignisse war er aus einem anderen Land hierhergeflogen.

Ebenso unerwartet, wie er aufgetaucht war, flatterte er wieder davon. Mit der Hand über den Augen sah ich ihm nach. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und es wurde kalt. Trotzdem standen mir die Schweißperlen auf der Stirn, und ich trocknete sie mit meiner Haube ab. In dem Versuch, das übermächtige Angstgefühl abzuschütteln, schloss ich kurz die Augen.

Als der Vogel nur noch ein Pünktchen ganz weit oben am Himmel war, stand ich auf und klopfte mir den Staub von den Kleidern.

2

Unser Haus aus rotem Backstein mit dem Treppengiebel lag am Wasser, nicht weit vom Lager. Über der Tür stand Gott behütet das Schiff in den Stein gemeißelt.

Der Text beruhigte mich. Wenn Gott über die Waren und Schiffe meines Vaters wachte, beschützte er sicher auch seine Wohnung.

Der Flur war leer. Die Kupferschälchen auf den Schränken glänzten im Licht der Kerzen, die Keramikteller an der Wand lagen im Schatten. Die Tür zu Vaters Kontor stand offen, aber er saß nicht darin.

Im Spiegel an der Wand sah ich mein blasses Gesicht. Meine Haare standen vom Kopf ab, und ich versuchte, sie mit den Händen glatt zu streichen. Meine Kopfhaut prickelte.

Ohne mich einmal umzusehen, war ich nach Hause gerannt und hatte dabei die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendetwas Schreckliches über unseren Köpfen hing. Jetzt kam mir meine Angst auf einmal lächerlich vor.

Die Fensterläden vor den Bleiglasscheiben waren alle geschlossen. Irgendwie erleichterte mich das. Denn jetzt war die Stadt mit all ihren Gefahren ausgesperrt, und das unheilvolle Gefühl schwebte nun nur noch ganz am Rand meines Bewusstseins.

Auch Maertge war nirgendwo zu sehen. Als meine Mutter starb und Vater mich zu Onkel Elias und Tante Antje schickte, blieb sie bei ihm. In den letzten Jahren hatte sie für ihn gesorgt, wie sie es schon für mich getan hatte, als ich noch ein Säugling war.

Da kam sie auch schon, ich hörte ihre Röcke über den Marmorboden schleifen. Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab.

»Kind, wo bist du denn gewesen?« Sie trug eine strenge Miene auf dem runzligen Gesicht zur Schau, aber ihre grauen Augen sahen mich liebevoll an.

Ich wollte ihr von dem Vogel erzählen, überlegte es mir aber anders. Warum sollte ich sie unnötig beunruhigen? »Ist er schon da?«

»Sie sitzen im Esszimmer und warten auf dich. Wie siehst du bloß aus!«

»Ich bin gerannt.«

»Lass mich mal deine Hände anschauen.«

Ich versuchte, sie hinter dem Rücken zu verbergen. »Heute hab ich keine Farbe angefasst ...« Meine Stimme erstarb unter ihrem entschlossenen Blick. Ich verübelte ihr nicht, dass sie mich noch immer wie ein Kind behandelte, weil sie mich eben nur als kleines Mädchen gekannt hatte.

»Schon gut. Komm mit«, sagte sie.

(Continues…)


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